3.1 Die Philistersatire der Romantik
Mit den Philistersatiren der Romantik, einem Produkt des literarischen Feldes, entsteht an der Wende zum 19. Jahrhundert eine erste Variante des Spießerverdikts. Die Philisterfigur „kursierte“, so Stein, „als ein gängiges Klischee in der romantischen Literatur“ (Stein
1985, S. 10). Dementsprechend haben sich bisher vorrangig Literaturwissenschaftler*innen mit dieser Figur und der zugehörigen Semantik beschäftigt. Die Herausgeber eines ertragreichen Sammelbandes zur Philisterfigur aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht konstatieren jedoch auch in diesen Disziplinen eine Diskrepanz zwischen der weiten Verbreitung der Sozialfigur des Philisters in der zeitgenössischen Literatur einerseits und der geringen Aufmerksamkeit der Forschung andererseits (Bunia et al.
2012, S. 13). In ihrem Band nehmen sie u.a. eine grobe Systematisierung des semantischen Feldes und auch der sozialen Funktionen dieser Bezeichnung vor, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts verändert und anreichert. Dazu benennen sie fünf verschiedene Problemkomplexe, mit denen die Philistersemantik verbunden ist: erstens die „Unterscheidung Eigenes/Anderes“, zweitens die Thematisierungen von „soziale[r] Mobilität“, drittens von „Gewalt“ und viertens von „Geschlecht“ sowie fünftens von „Bildung“ (ebd., S. 16 ff.). Damit werden zentrale Dimensionen sozialer Ordnung benannt. Zwar enthält die Verwendung des Philisterbegriffs den Autor*innen zufolge „regelmäßig einen herabwürdigen Aspekt“ (ebd., S. 18), jedoch verfolgen sie diesen nicht weiter hinsichtlich der hier interessierenden Frage, welche Ordnungsvorstellungen diese Praktik der Herabsetzung impliziert und verbreitet.
Für diese Frage ist von besonderem Interesse, dass die Philistersatire durch Zuschreibungen der Mediokrität, des Konformismus und des Konservatismus eine Position konturiert, die den Philister in der sozialen Mitte verortet. Dies ist allerdings noch nicht mit der Vorstellung einer modernen Sozialstruktur verbunden, sondern speist sich vielmehr aus der Verachtung alles Gewöhnlichen und Mittelmäßigen.
6 In der Romantik werden in der Philisterfigur zwei bereits verbreitete Bedeutungen der Bezeichnung „Philister“ kombiniert. Im literarischen Feld repräsentiert sie zunächst die dilettantische Gegenfigur zu den kunstschaffenden Genies und „Musensöhnen“. Zugleich war Philister aber auch die Bezeichnung für Bürger, die sich vor allem in kleinen Universitätsstädten in einem spannungs- und konfliktreichen Verhältnis zu den Studenten befanden (vgl. Bosse
2012). Die Philistersatiren übernehmen die kunstbezogene Konnotation der „Mittelmäßigkeit“ und verallgemeinern sie zum Merkmal einer sozialen Gruppe, der eine ebenso „mittelmäßige“ Position im gesellschaftlichen Gefüge zugewiesen wird: Die in einer ständischen Ordnung mittlere Position der Bürger bzw. des Mittelstands zwischen Adel und einfachem Volk erhält den pejorativen Sinn des „Mediokren“. Die sozialen Unterschiede, die sich in den verschiedenartigen, in Spannung zueinander stehenden Lebenswelten der bürgerlichen Philister und der Studenten um 1800 zeigen, werden in den Philistersatiren der Romantik somit in eine Semantik überführt, die die Kontraste zwischen den Normenhorizonten betont, welche die Lebensführung der beiden Gruppen anleiten. Der studentische Normenhorizont dient dann als Ausgangspunkt für das Ordnungsmodell, in dem den Philistern eine niedrige Position zugewiesen wird. Aus der Gegenüberstellung von Philister und Student übernehmen die Satiren zudem das Motiv eines Generationenkonflikts zwischen Alt und Jung, der geschichtsphilosophisch aufgeladen wird: Das „Philisterhafte“ wird zum Symbol des Veralteten, das Junge und Studentische hingegen zum Kennzeichen des Zukünftigen verallgemeinert.
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In der Philistersatire von Clemens Brentano aus dem Jahre 1811 manifestiert sich diese Funktionsweise auf pointierte Weise, denn in ihr werden bereits bestehende Zuschreibungen an den Philister zusammengeführt und zum Teil überboten. In der als Broschüre veröffentlichten „[s]cherzhafte[n] Abhandlung“ (Brentano
2013 [1811], S. 123) „traktiert“ Brentano den Philister in grotesken, sich überschlagenden hyperbolischen Beschreibungen, metapherngestützten Assoziationsketten und unausgeführten Anspielungen „nach Strich und Faden“ (Oesterle
1992, S. 56). Hier zeigt sich die oben bereits erläutere Funktionsweise der Philistersatire exemplarisch: Brentano erweitert den auf lokalisierbare soziale Gruppierungen verweisenden Konflikt zwischen Studenten und Philistern, indem er ihn in eine Gegenüberstellung überführt, die Lebensweisen und Haltungen in einer weitaus allgemeineren Weise betrifft. „Philister also wurden“, so die dortige Definition,
alle genannt, die keine Studenten waren, und nehmen wir das Wort Student im weitem Sinne eines Studierenden, eines Erkenntnißbegierigen, eines Menschen, der das Haus seines Lebens noch nicht wie eine Schnecke, welche die wahren Hausphilister sind, zugeklebt, eines Menschen, der in der Erforschung des Ewigen, der Wissenschaft, oder Gottes begriffen […], so stehen die Philister ihm gegenüber, und alle sind Philister, welche keine Studenten in diesem weitern Sinne des Wortes sind. (Brentano
2013 [1811], S. 147)
Die Mittelmäßigkeit des Philisters wird in Brentanos Schrift an Denk- und Lebensführungsweisen verdeutlicht, die dem Publikum seine Minderwertigkeit vor Augen führen. Eine Vielzahl von Praktiken, Überzeugungen und Eigenschaften soll seine Lächerlichkeit bezeugen. In seiner gesamten Lebensführung orientiert am Gewohnten und Gewöhnlichen, so wird suggeriert, suche er Sicherheit in einem strikt geregelten Tagesablauf und Lebensweg. Die Einhaltung sozialer Normen und Konventionen sei das Prinzip seines Ethos, das Geschäft Zentrum seines Lebens. Er strebe nach finanziellem Erfolg, verliere sich dabei jedoch in der Routine, sodass die Geschäftigkeit letztlich zu sinnentleertem Beschäftigtsein verkomme. Diese Lebensweise verweise ihn, eben mit Ausnahme der Erwerbsarbeit, auf den Raum des Privaten, der seiner Kontrolle unterliege und ihm die Abschottung gegen mögliche Irritationen ermögliche (vgl. dazu Engel
2020). Die Sphäre der Öffentlichkeit nehme der Philister vorrangig als den Ort des Geschäfts wahr, der das Einhalten enger Sittlichkeitsregeln verlangt und ihm deshalb durchweg
mäßiges Vergnügen bereitet (vgl. dazu auch Novalis
1798, S. 94). Diese Abschottung gegen das Außergewöhnliche ist laut Brentano zugleich Ursache wie Effekt mangelnder Phantasie und resultiert in einer Borniertheit, die sich in der Konzentration auf das Alltägliche und das nahe Umfeld manifestiert. Dagegen werden jene aufgewertet, die sich der Welt zuwenden, sich Herausforderungen stellen, die Erweiterung ihres Horizonts durch Erweiterung ihres Wissens und schließlich eine ungehemmte Entfaltung ihrer Individualität anstreben.
8 Diese Ideale werden jenen zugeschrieben, die Brentano unter der Bezeichnung „Studierende“ (Brentano
2013 [1811], S. 147) zusammenfasst. Sie kennzeichnet ihm zufolge ein Ethos, der auch die bewusste Überschreitung von Normen und den Willen zur Provokation umfasst.
Verstärkt wird die invektive Valenz dieser Charakterisierung des Philisters durch die Verortung in einer temporalen Ordnung, die den Generationenkonflikt zwischen jungen Studenten und älteren Bürgern verallgemeinert, indem sie ihn als Gegensatz von Vergangenheit und Zukunft deutet. Diese geschichtsphilosophische Dimension, die sich schon im Titel
Der Philister vor, in und nach der Geschichte andeutet, zeigt sich in Anleihen aus der christlichen Mythologie. So wird der Philister mehrfach mit Luzifer identifiziert, der sich in einem ewigen Konflikt mit Gott befinde (ebd., S. 132 ff.). In seinem „diesseitigen“ Dasein wird er allerdings auf eine Existenz als Repräsentant des Vergangenen und des Apologetentums im Künstlerischen reduziert (ebd., S. 148, 166). In der Gegenwart verkörpere er eine Art Zombie-Existenz, wie Brentano plastisch ausführt:
Ein Philister ist ein steifstelliger, steifleinener, oder auch lederner, scheinlebendiger Kerl, der nicht weiß, daß er gestorben ist, und ganz unnöthiger Weise sich länger auf der Welt aufhält; ein Philister ist ein mit allerlei lächerlichen äußerlichen Lebenszeichen behängter umwandelnder Leichenbitterstock seines eigenen innern ewigen Todes. (ebd., S. 128)
Das Tote wird damit zu einem Merkmal des Philisters, das ihn wesenhaft – also essenziell – bestimme. Die Essenz der „Studierenden“ dagegen sei das Leben, sie seien „großen und herrlichen Flüsse[n]“ vergleichbar, die „sich aus reinen ursprünglichen fröhlichen Quellen der Gebürge“ speisen (ebd., S. 125). Gegenüber der geistigen Stagnation des Philisters wird die permanente Veränderung aufgewertet als eine auf Dauer gestellte Suche mit dem Ziel, das eigene Selbst zu entfalten und den eigenen „Genius“ zu entwickeln.
„Student“ und „Bürger“ sind hier also keine von Personen eingenommenen sozialen Rollen, sondern Chiffren für Lebensweisen und Haltungen. Als Studierende können sich nicht nur jene bezeichnen, die gerade an einer Universität ausgebildet werden, um danach die Rolle zu wechseln und in eine bürgerliche Existenz einzutreten, also ein Amt in Kirche oder Staat auszufüllen. Vielmehr wird die Möglichkeit eröffnet, das Studentendasein als eine dauerhafte Lebensform zu begreifen. Die Herabsetzung des Philisters erweist sich in dieser Weise als ein Desidentifikationsangebot. Seine Lebensweise wird lächerlich gemacht und zugleich insinuiert, man müsse nicht in dieser Weise leben, sondern könne auch anders sein. Damit dient sie auch dem Angriff auf die hegemoniale Hierarchisierung und Bewertung der sozialen Positionen und treibt deren Umwertung voran: Indem die Philister als den Studenten gegenüber inferior dargestellt werden, wird die bestehende gesellschaftliche Hierarchie invertiert.
An den Philistersatiren der Romantik zeigt sich damit die das Spießerverdikt kennzeichnende diskursive Strategie, die die Abwertung des anderen und die Hochbewertung des Eigenen in einem Positionierungsakt verknüpft. In ihren Charakterisierungen wird der Philister einerseits in einer räumlich gedachten sozialen Mitte, andererseits temporal in der Vergangenheit positioniert. Die Lebensweise und Haltung der Studenten wird demgegenüber im gleichen Zug als peripher und avantgardistisch markiert. Die Orientierung auf eine offene Zukunft und die Überzeugung, diese in besserer Weise als die „mittelmäßigen“ Philister gestalten zu können, ist damit untrennbar mit dieser Invektive verbunden: Wer ihr folgt und auf die Philister herabschaut, muss sich zugleich an der zugrundeliegenden Ordnungsvorstellung orientieren und sich selbst als beweglich und zukunftsoffen ansehen. Ironie und Hyperbolie, insbesondere aber das Verlachen der Philister werden als taktische Mittel eingesetzt, um zu affizieren und zu provozieren und hegemoniale Verhaltensregeln zu unterminieren.
Die Philisterschmähungen, die die romantischen Satiren zu Beginn des Jahrhunderts entwickeln, bleiben in den folgenden Dekaden virulent und in ihren Funktionen als Desidentifikationsangebot und Herabsetzung einer sozial mittigen Position maßgeblich. Am Ende des Jahrhunderts prägt insbesondere Friedrich Nietzsche mit der invektiven Bezeichnung „Bildungsphilister“ (Nietzsche
1999 [1873], S. 165) eine Variante, die die Herkunft dieses Spießerverdikts aus dem ästhetischen Feld betont.
9 Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Bezeichnung nur noch als bildungssprachlicher Ausdruck bekannt. Ihre Funktion als Desidentifikationsangebot beerbt seit ungefähr dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts die Bezeichnung Kleinbürger, die in eine neue Deutung der sozialen Ordnung eingebettet ist.
3.2 Die Kleinbürgerkritik in der Klassentheorie
Die Kleinbürgerkritik ist eines der wirkmächtigsten Spießerverdikte des 19. Jahrhunderts, das auch das 20. Jahrhundert noch kennt und nutzt (Enzensberger
1982). Sowohl in der Sozialgeschichte als auch in der Soziologie ist das Kleinbürgertum zwar als eine analytische Bezeichnung anerkannt, die sich auf Berufsgruppen sowie Produktions- und Lebensführungsweisen bezieht und die es von anderen sozialen Gruppierungen abgrenzt (vgl. z.B. Haupt und Crossick
1998; Eder
1989). Jedoch scheint gerade der Kleinbürger als Objekt wissenschaftlicher Betrachtung schwierig zu fassen, gilt der häufig „als Schimpfwort, oft mit ironischem Beigeschmack“ verwendete Begriff doch als „[z]u stark mit ideologischem und polemischem Gehalt aufgeladen“ (Franke
1988, S. 9). Unter der hier gewählten Perspektive, die die Schmähung als eine Praxis der Herabsetzung ernst nimmt, wird die Not der Historiker*innen jedoch zu einem Gewinn für Soziolog*innen, wenn die Bezeichnungen Kleinbürger, Spieß(bürg)er und Philister als Kampfmittel in Auseinandersetzungen um die Deutung der sozialen Ordnung in den Blick genommen werden.
Artikuliert wird die Kleinbürgerkritik als Invektive gegen die mittleren Lagen seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Klassentheorie (vgl. dazu Schrage
2020). Die prominentesten und auch differenziertesten Autoren sind hier Karl Marx und Friedrich Engels. Wir konzentrieren unsere folgende Darstellung deshalb auf das
Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 sowie auf Engels’ unvollständig überliefertes Manuskript „Der Status Quo in Deutschland“ von 1847. Mit der Erzeugung einer neuen Variante des Spießerverdikts wird – trotz einiger bemerkenswerter Kontinuitäten zur Philistersatire – eine Diskursverschiebung ersichtlich. Die Kleinbürgerkritik greift nämlich auf eine anders geartete Vorstellung der sozialen Ordnung zurück, sodass die Problematisierung des Kleinbürgers innerhalb eines anderen Bewertungsschemas stattfindet.
Mit dem Übergang vom Philister zum Kleinbürger verändert sich zudem der epistemische Status der invektiven Figur und damit auch ihre Funktion. Die Kleinbürgerkritik folgt zwar der für das Spießerverdikt insgesamt charakteristischen diskursiven Strategie, nutzt allerdings eine andere Taktik als die Philistersatire. In der mit wissenschaftlichem Anspruch auftretenden Klassentheorie wird der Kleinbürger als Vertreter einer Klasse eingeführt, die objektiv bestimmbar sei – dem Kleinbürgertum. Entsprechend dieser objektivierenden Anlage der klassentheoretischen Analyse erscheint das Kleinbürgertum als eine Zwischenklasse in einer prekären Stellung: Sie „schwebt“ zwischen der aufstrebenden Bourgeoisie und dem entstehenden Proletariat und wird damit in einer mittleren sozialen Lage positioniert (Marx und Engels
1959 [1848], S. 484). Von besonderer Bedeutung für die Herabsetzung des Kleinbürgers in der Klassentheorie ist jedoch, dass dieser Position wiederum jegliche Zukunftsfähigkeit abgesprochen wird, indem sie als Phänomen eines Übergangs gefasst wird. Wie schon der Philister repräsentiert das Kleinbürgertum ein Residuum der sich im Prozess der Veraltung befindlichen Ordnung. Auch der Herabsetzung der Kleinbürger liegt also eine komplexe geschichtsphilosophische Positionierungspraxis zugrunde, die aus einer angemaßten Position zukunftsträchtiger Randständigkeit erfolgt. Diese Positionierung ist die Grundlage für die in verschiedenen Schriften von Marx und Engels aufzufindende, durchaus invektive Charakterisierung des Kleinbürgertums als unselbständige und passive Klasse, laut Engels die „miserabelste [...], die zu irgendeiner Zeit in die Geschichte hineingepfuscht hat“ (Engels
1959 [1847], S. 46). Die objektivierende Klassenanalyse des Kleinbürgertums bereitet den Boden für die Disqualifizierung dieser Klasse und ihrer Vertreter, den Kleinbürgern. Realisiert wird sie in der Abwertung der kleinbürgerlichen Lebensweise und politischen Haltung.
Bekanntermaßen präsentiert das
Manifest die Grundzüge dieser komplexen Geschichtsphilosophie in Form eines Narrativs, das die „Geschichte aller bisherigen Gesellschaft“ als „eine Geschichte von Klassenkämpfen“ modelliert (Marx und Engels
1959 [1848], S. 462). Jede historische gesellschaftliche Formation sei durch eine spezifische Konfliktkonstellation gekennzeichnet, in der sich „Unterdrücker“ und „Unterdrückte“ in einem „ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf“ befänden, der schließlich entweder mit einer „revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“ (ebd.). Laut der Analyse befinden sich die europäischen Länder zeitgenössisch in einer solchen Phase der tiefgreifenden gesellschaftlichen Restrukturierung, da „aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft“ die „moderne bürgerliche Gesellschaft“ (ebd., S. 463) hervorgegangen sei, in der sich die Bourgeoisie durchsetzte und das Proletariat sich als die neue unterdrücke Klasse konstituiert. Vor dem Hintergrund dieses Schemas wird „der Kleinbürgerschaft“ prognostiziert, „ins Proletariat herabgeschleudert [zu] werden“ und mittel- bis langfristig „als selbständiger Teil der modernen Gesellschaft gänzlich [zu] verschwinden“ (ebd., S. 484). Erst dann könne die Konfrontation von Bourgeoisie und Proletariat klar hervortreten und der Kampf des Letzteren sich ganz auf die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise konzentrieren.
Vor dem Hintergrund dieses historischen Narrativs, das das zukünftige Verschwinden des Kleinbürgertums antizipiert, nimmt sich die Gegenwart insbesondere in Deutschland als Anomalie aus. Hier nämlich erhebe das Kleinbürgertum Anspruch auf Hegemonie – Engels zufolge ein untrüglicher Ausdruck der deutschen Misere und einer im Vergleich zu Westeuropa „zurückgebliebenen Zivilisationsstufe“ (Engels
1959 [1847], S. 43). Während sich in anderen Ländern im Prozess der Überwindung des feudalen Systems die Bourgeoisie als diejenige Klasse herausbildet habe, die die Vormachtstellung erlangt hat, sei es in Deutschland die „Klasse der Kleinbürger“, die „nach der Herrschaft strebt“ (ebd., S. 44). Sie sei allerdings zu „schwach“ (ebd., S. 49), „hilflos[]“ (ebd., S. 48) und „undiszipliniert[]“ (ebd.), um die Macht des noch herrschenden Adels zu brechen.
Grund dafür seien die Lebens- und Produktionsweisen der Kleinbürger, die sich durch Beschränkt- und Borniertheit auszeichneten – also jene Eigenschaften, die wie gesehen bereits den Philistern in den romantischen Satiren attestiert worden waren. In den klassentheoretischen Invektiven zeigt sich nun jedoch eine andere Rahmung, die die Lebensweisen weniger stark als individuell und frei wählbar erscheinen lässt. Statt des Normenhorizonts der individuellen Kleinbürger wird der unterstellte Interessenhorizont in den Fokus gerückt, der ihnen als Klasse gemeinsam sei und sich als bestimmend erweise. So vertreten sie Engels zufolge „Interessen, die nicht über den engsten Lokalkreis hinausreichen“, und haben „notwendig einen ihren beschränkten Lebensverhältnissen entsprechenden beschränkten Gesichtskreis“ (ebd., S. 53). Daraus ergibt sich die Unfähigkeit des Kleinbürgertums, eine politische Kraft zu werden oder einen Staat zu führen, denn der Kleinbürger als Klassenvertreter habe „nur insofern Interesse an der allgemeinen Politik seines Landes, als er den Frieden wünscht; sein bornierter Lebenskreis macht ihn unfähig, Relationen von Staat zu Staat zu übersehen“ (ebd, S. 56). Angesichts einer sich globalisierenden Wirtschaft sei es nur die Bourgeoisie mit ihren „umfassenderen Interessen, größerem Besitz und entschiedenerem Mut“ (ebd., S. 44), die Deutschland aus dem „Morast seines Status quo“ (ebd., S. 42) führen könne.
Repräsentiert der Kleinbürger also einerseits in sozialstruktureller Hinsicht die mittlere Position zwischen Bourgeoisie und Proletariat, so ist er andererseits Repräsentant einer Übergangsordnung, die – ähnlich der Philisterfigur in den romantischen Satiren – in der Gegenwart bereits ihre Existenzberechtigung verloren hat. Das deutsche Kleinbürgertum, so das
Manifest, sei seit dem 16. Jahrhundert in immer neuen Formen in Erscheinung getreten (Marx und Engels
1959 [1848], S. 487). Gleichwohl wird ihm als Klasse jede aktive Rolle in der Gestaltung der Zukunft abgesprochen. Aus dem Anspruch, dass die eigene Sichtweise auf der objektiv richtigen Analyse der Funktionsweise der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer historischen Entwicklungen beruht, ergibt sich für die Klassentheoretiker das eindeutige Verdikt, dass die Produktions- und damit Lebensweise des Kleinbürgertums nicht mehr zeitgemäß sei. Es wird damit als ein welthistorischer Anachronismus markiert, dessen Fortleben jedoch weitreichende Konsequenzen hat: Das Kleinbürgertum fungiere eben gerade in Deutschland als Hemmschuh der geschichtlichen Entwicklung. Doch selbst in dieser Funktion könne es nicht einmal mehr den „
Schein historischer Initiative“ bewahren, sondern widersetze sich den historisch-gesellschaftlichen Dynamiken „mit dem ganzen Gewicht [seiner] Trägheitskraft“ (Engels
1959 [1847], S. 47). Das Kleinbürgertum sei damit eine genuin konservative Macht, es „klammert sich an das Bestehende“, so Engels, und befördere die Stagnation der historischen Entwicklung in Deutschland. Ironisch fügt Engels hinzu: „So hat die Kleinbürgerschaft bei ihrer gedrückten gesellschaftlichen und politischen Stellung wenigstens den Trost, die Normalklasse von Deutschland zu sein und allen übrigen Klassen ihre spezifische Gedrücktheit und ihre Nahrungssorgen mitgeteilt zu haben“ (ebd., S. 50 f.). So trage auch das deutsche Bürgertum „den Stempel bürgerliche[r] Mittelmäßigkeit“, nimmt sich gegenüber der Bourgeoisie in den industrialisierten Staaten „winzig“, „unbedeutend“ und „lokalborniert“ aus (ebd., S. 50).
Der Kleinbürger wird damit zu einer genuin politischen Figur gemacht, und zwar gerade weil er sich weigert, auf der Höhe der Zeit zu agieren und sich den politischen Auseinandersetzungen zu stellen, die in den Augen Engels’ und Marx’ die Agenda bestimmen sollten. Die Kämpfe des Kleinbürgertums um Machterhaltung verhindern demnach die Polarisierung von Bourgeoisie und Proletariat, die im Klassenkampfnarrativ als erstrebenswert erscheint – denn erst die direkte Konfrontation von Bourgeoisie und Proletariat würde ja Marx und Engels zufolge die proletarische Revolution und damit die menschliche Emanzipation herbeiführen. Die Macht der Kleinbürger zu brechen ist mithin ein Schritt, der in der materialistischen Geschichtsauffassung als notwendig erscheint. Die starke Polemik gegen die Klasse der Kleinbürger wird zum integralen Bestandteil der Strategie, die eigene Ordnungsvorstellung durchzusetzen.
Vor dem Hintergrund dieses Narrativs kann deshalb die Zuschreibung einer progressiven, den Fortschritt repräsentierenden Kraft sowohl an die Bourgeoisie als auch an das Proletariat – inklusive der mit ihm verbündeten Kommunisten – vergeben werden. Wiederum wird dabei die deutsche Situation als eine spezifische markiert: Die Bourgeoisie in England und Frankreich befinde sich laut Marx und Engels derzeit auf Seiten des Fortschritts. Allerdings wird auch ihr prophezeit, zur Vertreterin der Stagnation zu werden. Derzeit trage sie jedoch dazu bei, die Institutionen und traditionellen Privilegien des feudalen Systems zu beseitigen und sich als die herrschende Klasse zu behaupten, indem sie „die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt“ und die „festen eingerosteten Verhältnisse“ auflöse (Marx und Engels
1959 [1848], S. 464 f.). Sobald sich jedoch ihre Macht konsolidiere, wenn sie „
aufhört, progressiv und revolutionär zu sein, und selber stationär wird“ (Engels
1962 [1845], S. 580), werde die Position der Progressiven und Revolutionäre an die Arbeiterklasse bzw. das Proletariat übergehen. Weil das Bürgertum in Deutschland jedoch vom Kleinbürgertum dominiert werde, wird die Position der zukunftsfähigen Vertreter des Fortschritts hier freigehalten für die eigene Gruppe, die Kommunisten. Sie „kämpfen“, so Marx und Engels im
Manifest, „für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung“ (Marx und Engels
1959 [1848], S. 492). Die von den Romantikern genutzten Gegensatzpaare alt versus jung und tot versus lebendig werden in den Invektiven gegen die Kleinbürger also durch eine neuartige Geschichtsphilosophie begründet, der eine klare Teleologie eignet. Gegenüber der recht konturlosen Zukunftsvision der Romantiker, die ihren eigenen Anspruch auf Zukunftsfähigkeit vor allem dadurch anmeldet, dass sie der Erwartung eines festgelegten biographischen Lebensweges widerspricht und dagegen die individuelle Selbstbestimmung setzt, unterliegt der Klassentheorie die kollektive Zukunftsvision einer kommenden Gesellschaftsordnung.
Die Kleinbürgerkritik zeichnet sich gegenüber der Philistersatire somit einerseits durch eine größere Komplexität, einen höheren Theoretisierungsgrad und einen politisch motivierten Mobilisierungsappell aus. Andererseits ist aber auch die Ähnlichkeit in der Funktion erkennbar: Die Herabsetzung des Kleinbürgertums dient der Aufwertung der eigenen Gruppe und generiert ein Bewertungsschema, das Positionen in einer räumlichen Ordnungsdimension mit solchen in einer zeitlichen Ordnungsdimension koppelt, wobei jeweils die Position der Mitte zwischen oben und unten respektive des Übergangs zwischen alt und neu invektiert wird. Die Mitte wird hier also nicht, wie im Liberalismus, als Aktivitätszentrum der Gesellschaft codiert, sondern auf dem zeitlichen Register als Hemmschuh einer Entwicklung und auf dem räumlichen als unentschiedenes juste milieu diskursiviert. Als Innovation gegenüber der romantischen Variante des Spießerverdikts erweist sich die Verknüpfung der sozioökonomischen Situierung mit der den Kleinbürgern zugeschriebenen Haltung zu den historischen Dynamiken. Sie lässt die Intervention in die bestehende, als veraltet und überkommen erscheinende Ordnung als legitim erscheinen, womit der Aufruf zur Desidentifikation mit dieser Klasse seinen spezifischen Sinn erhält. Die diskursiven Praktiken der sozialen Positionierung beziehen sich hier also auf eine sehr differenzierte Vorstellung der sozialen Ordnung, der ein ausgearbeitetes Modell der Sozialstruktur zugrunde liegt, auf dessen Basis Akte der sozialen Positionierung in der Mitte einer Beleidigung gleichkommen können.
Die Kleinbürgerkritik bleibt als Modell der Spießerbeschimpfung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein verbreitet. Die Relektüre der Schriften von Marx und Engels in Gegenkulturen wie der Studentenbewegung seit den 1960er-Jahren macht sie relevant in der Alltagskommunikation und dem Feuilleton. Jedoch zeigt sie sich auch in soziologischen Theorien, die Impulse aus der Marx’schen Theorie aufnehmen. Besonders augenfällig ist dabei die Verwendung bei Pierre Bourdieu, dessen Charakterisierung der Kleinbürger in
Die feinen Unterschiede eindeutig durch die Klassentheorie Marx’ affiziert ist. Der Lebensstil des Kleinbürgers wird wiederholt in einem pejorativen Sinne mit dem „Mittleren“ identifiziert, wie z.B. der „mittleren Kunst“ (Bourdieu
1982, S. 110). Ihm werden Eigenschaften wie „Nüchternheit und Maßhalten“ (ebd., S. 297), „Gehemmtheit“ (ebd., S. 331) und „Geschäftigkeit“ (ebd., S. 337) zugeschrieben. Der „ambitionierte“ Kleinbürger „versagt“ sich das Leben in der Gegenwart, „im Hier und Jetzt“, und bildet „sein Selbstbild um den Gegensatz zwischen Heim und Café“ – wobei er wie der Philister das Heim und das Private präferiert – sowie „zwischen individuellem Wohl und kollektiver Solidarität“ (ebd., S. 297). Wie bei Marx und Engels erweist sich der Kleinbürger also auch bei Bourdieu als borniert und kapriziert auf seinen kleinen Einflussbereich.
3.3 Antibürgerliche Selbstinszenierung der Boheme
Als dritte Variante des Spießerverdikts betrachten wir nun die dezidiert antibürgerlichen Invektiven, die im Kontext verschiedener Kreise und Bewegungen der Boheme
10 produziert wurden. Unter der Bezeichnung Boheme als soziokultureller Formation wird hier ein breites Spektrum von literarischen und künstlerischen Strömungen gefasst, die aufgrund ihrer Heterogenität kaum auf einen Nenner zu bringen sind. Helmut Kreuzer, der bereits 1968 eine klassisch gewordene Studie zur Boheme veröffentlichte, rechtfertigt die Rede von der Boheme als soziokultureller Kategorie jedoch damit, dass in ihr ein „bestimmter, intentionell unbürgerlicher Stil des Lebens“ praktiziert werde, der mit einer „gegenbürgerlichen Einstellung“ verbunden sei (Kreuzer
2000 [1968], S. 43). Die Boheme sei historisch gebunden an die bürgerliche Gesellschaft, sie sei ein „ihr zugehöriges antagonistisches Komplement“ (ebd., S. 45), das sich nur auf Grundlage einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation habe entwickeln können (vgl. auch Bourdieu
1999, S. 83 ff.). Anders als im Falle des Philisters oder des Kleinbürgers kristallisiert sich indes in der Antibürgerlichkeit der Boheme keine Bezeichnung eines invektivierbaren Sozialtypus. Allerdings finden sich beide älteren Typen – neben der vermehrten Verwendung des Spießbürgerbegriffs – in den Schriften der Boheme, sodass Kreuzer in den literarischen Zeugnissen ein „Philisterbild“ (ebd., S. 142) und ein „Bourgeoisbild“ (ebd., S. 146) unterscheidet. Diese sind jedoch nicht kongruent zu den oben vorgestellten romantischen respektive klassentheoretischen Varianten dieser Figuren: Vielmehr sind sie auf die Boheme hin aktualisiert und zeigen deshalb eine weitere Variation des Spießerverdikts an.
So wird die Strategie der Abwertung der Position in der gesellschaftlichen Mitte in den Spießerverdikten der Boheme taktisch durch einen hohen Grad an Selbstinszenierung realisiert, die das Bestreben um die Aufwertung der eigenen Lebensweise stützt. Dies macht den besonderen Charakter dieser Variante aus. Einerseits wird sich hier explizit von der klassentheoretischen Variante abgegrenzt. Andererseits werden Elemente der romantischen Individualitätsrhetorik aufgenommen, diese jedoch angesichts eines veränderten historischen Kontextes aktualisiert und stärker noch als bei den Romantikern als praktizierte
Lebenskunst realisiert. Im Folgenden werden diese Bezüge auf die vorangegangenen Varianten des Spießerverdikts und die ihnen korrespondierenden Ordnungsvorstellungen anhand von Diskursbeiträgen Erich Mühsams, der als einer der herausragenden Boheme-Vertreter in Deutschland gilt, sowie Julius Babs vorgestellt, der u.a. in seiner Monographie
Die Berliner Boheme (
1904) auf die Boheme-Bewegung reflektiert.
Allgemein gesprochen wird die gesellschaftliche Mitte in den Spießerverdikten um 1900 nicht vorrangig als „mittlere Klasse“ in einem hierarchischen Gefüge verstanden, wie es in der Klassentheorie der Fall ist. Vielmehr nehmen die Bohemiens die bereits durch die Romantiker eingeführte Assoziierung von Mittelmäßigkeit und Konformität auf und überformen sie indem sie die Mitte als ein integriertes Zentrum der Gesellschaft konzipieren von dem ein exkludiertes Außen abgesetzt ist. Darin kommt eine Vorstellung der gesellschaftlichen Mitte zum Ausdruck, die heute noch in politischen Diskursen zu finden ist, die zwischen den Volksparteien als „Parteien der Mitte“ und den davon abgesetzten politischen Rändern unterscheiden (vgl. u.a. Marg
2014).
Wie in den beiden anderen vorgestellten Varianten werden die (Spieß‑)Bürger als Angehörige dieser integrierten Mitte abgewertet, indem sie pauschal mit einem Persönlichkeitstypus identifiziert werden, der sich unhinterfragt an den hegemonialen Normen orientiert, den eigenen ökonomischen Interessen folgt und ein sowohl konservatives als auch beschränktes Leitbild eines erfolgreichen Lebens- und Karriereweges propagiert. Wie schon in der bei Brentano sich abzeichnenden Dichotomie von Philister und Studierendem stehen sich bei Bab Spießbürger und Bohemien gegenüber, wobei Bab die wechselseitige Abwertung gleich zu Beginn seiner Abhandlung betont. Ersterer verbringe sein Dasein im „Gehege der Sitten“ und schaue „mit Grauen und Neugier, Neid und Verachtung“ auf Letzteren (Bab
1904, S. 6). Der Bohemien dagegen, dem aufgrund seiner künstlerischen Ambitionen und „lebensdurstigen“ Antriebe die „Führung einer ‚gesellschaftsfähigen‘ Existenz verwehrt“ sei, zeige sich in einer permanenten „kriegerisch-hämischen Stimmung gegenüber der Gesellschaft“, die ihn umgebe (ebd., S. 7). Dem Bürger, der sich im „Gehege“ der Konventionen sozusagen eingesperrt findet und aufgrund seiner Konformität als gesellschaftlich integriert gilt, wird der Bohemien als Angehöriger des „Kultur-Zigeunertums“ entgegengestellt, das die „zentrifugalen Elemente der Menschheit“ repräsentiere (ebd., S. 4). Dies seien die Künstler und Intellektuellen, die sich frei von der Beschränktheit der Bürger dem „Lebenswirrsal“ (ebd., S. 10) hingeben und damit die invektive Bezeichnung Zigeuner aufwerten und sich aneignen.
11 In ähnlicher Weise modelliert Mühsam die Gegenüberstellung von Philistern und „Ausgestoßenen“, insbesondere den Künstlern: „Philistrosität ist die Tendenz, den eigenen sittlichen Horizont als moralischen Schutzkordon um die Menschheit zu legen.“ Dabei sei jedoch nicht „die größtmögliche Anpassung an die Gepflogenheit der Mehrzahl“ das vorrangige Problem, sondern „die eifersüchtige Bewachung des Nebenmenschen“ (Mühsam
1906, S. 4), insbesondere derjenigen, die sich der „gesellschaftliche[n] Nutzarbeit verweigern“ (ebd., S. 6).
Diese Gegenüberstellungen beruhen somit auf der Unterscheidung zwischen einerseits der Zufriedenheit mit dem Bestehenden, Kennzeichen der Lebensweise des Spießbürgers und Philisters, und andererseits dem „Auftrotzen gegen das Gewöhnliche“ (Mühsam
1906, S. 9) – eine Praktik, die „einer neuen Kultur die Wege“ weisen könne (ebd., S. 10) und damit als zukunftsfähig markiert wird. In den Selbstbeschreibungen der Boheme erscheinen häufig die Positionen, die als soziale Unterschicht gelten und deshalb aus der „guten Gesellschaft“ exkludiert sind, mit der eigenen verwandt. Nicht das Merkmal der Armut, sondern die Weigerung, sich den bürgerlichen Normen zu unterwerfen, wird insbesondere von Mühsam als Gemeinsamkeit konstatiert. Bohemiens, so Mühsam, zeigten fast immer „ein inniges Solidaritätsgefühl zum fünften Stande, zum Lumpenproletariat“ (ebd., S. 10).
In der Refiguration des Positionsgefüges wird deutlich, dass diese Variante des Spießerverdikts die klassentheoretische invertiert: Zum einen wird das Proletariat als organisierte Arbeiterschaft, die für die Klassentheorie positiv besetzt ist, nun selbst in einer als problematisch erscheinenden mittleren Position verortet. Das Proletariat stehe um 1900, so Mühsam, „in der Mitte zwischen Bourgeoisie und den Tschandala, auf deren Seite nur noch die unorganisierten Gruppen kämpfen: Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler“, die „Ausgestoßenen“ (ebd., S. 5 f.). Die etablierte Arbeiterbewegung habe „durch die Ausschaltung des individuellen Temperaments des Einzelnen die revolutionäre Kernidee des gewerkschaftlichen Kampfes verwischt“, das Proletariat sei durch die „zukunftsstaatsbesessene Sozialdemokratie […] dem Klassenkampf völlig entfremdet“ worden (Mühsam
1906, S. 5). Zum anderen stehen der positive Bezug auf das Lumpenproletariat und die Selbstbezeichnung als Boheme der Abwertung dieser Gruppen bei Marx diametral entgegen. In seiner Polemik
Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte hatte dieser noch der „ganze[n] unbestimmte[n], aufgelöste[n], hin- und hergeworfene[n] Masse, die die Franzosen la bohème nennen“ (Marx
1960 [1852], S. 161), die Rolle der lächerlichen und moralisch fragwürdigen Unterstützer des Louis Bonaparte zugewiesen und dessen „langes abenteuerndes Vagabundenleben“ (ebd., S. 159) als Vorbereitung auf seine eigene Rolle als „Chef“ eben dieses „Lumpenproletariats“ interpretiert (ebd., S. 161; Hervorh. weggel.). Letzteres entzieht sich bei Marx konstitutiv der politischen Festlegung und steht als soziale Kategorie quer zu dem oben rekonstruierten klassentheoretischen Ordnungsmodell. Es wird als
persona non grata der weltgeschichtlichen „Komödie“ (ebd., S. 161), die sich im Interregnum des zweiten Kaiserreichs ereignet, verächtlich gemacht. Die lumpenproletarischen Bohemiens fügen sich somit nicht reibungslos in das Klassengefüge ein: Sie repräsentieren den Rest, der nach der Einordnung übrigbleibt. Durchaus invektiv bezeichnet Marx sie als „Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen“ (ebd.).
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Während das Lumpenproletariat aber bei Marx mit dem Vorwurf politischer Positionslosigkeit belegt wird (vgl. auch Marx und Engels
1959 [1848], S. 472), gilt dieser angebliche Mangel in den Beiträgen der Boheme als Auszeichnung: Das vordem stigmatisierte Vagabundische wird aufgewertet. Wie schon in Brentanos Lob der Studenten bildet Mobilität in geistiger und räumlicher Hinsicht ein tragendes Motiv des Selbstverständnisses. Codiert wird diese Beweglichkeit in den Topoi des Abenteuers, einer Suchbewegung sowie der permanenten Selbstreflexion und -entwicklung. Die Kennzeichen der „Verbürgerlichung“ (Bab
1904, S. 36), darunter vor allem die Heirat, das Sich-Niederlassen an einem dauerhaften Wohnsitz und die Aufnahme eines existenzsichernden Berufs, werden hingegen perhorresziert.
Damit einher geht eine erneute Aufwertung der Individualität als Instanz der Freiheit und des Nonkonformen, die die Romantik bereits vorzeichnete und die in der Boheme ganz buchstäblich in die Praxis umgesetzt wird. So stellt in Julius Babs klassisch gewordener Schrift über die Boheme die Beschreibung eines Autors als „Heimatloser“ (Bab
1904, S. 22) und „Gesellschaftsfeind“ (ebd., S. 11), der seine Individualität in vollem Umfang realisiert, das höchste Lob dar. Ein theoretisches Fundament findet diese Haltung in Max Stirners einflussreicher Schrift
Der Einzige und sein Eigentum, die eine Lehre des „Egoismus“ enthält und ein mit dem Marxismus konkurrierendes Ideal menschlicher Emanzipation zeichnet (Stirner
2016 [1844]). Auch Friedrich Nietzsche hat sich in Teilen der Boheme-Bewegung als Referenz für einen solchen emphatischen Begriff des Individualismus etabliert, der die eigene Lebensweise und Haltung ebenso wie die Invektiven gegen Spießbürger und „Bildungsphilister“ (Nietzsche
1999 [1873], S. 165) legitimiert.
Diese die romantischen Ideen aufnehmende Hinwendung zur Individualität zeigt sich auch in der diskursiven Thematisierung der besonderen Lebensführung der Bohemiens, in der die Unterminierung bürgerlicher Normen wie Sparsamkeit, Ruhe, Ordnung und Mäßigung in den Alltagspraktiken ostentativ inszeniert wird. Diese Normen werden verbal und insbesondere anhand der ihnen entsprechenden künstlerischen, meist literarischen Produkte ins Lächerliche gezogen. Darüber hinaus wirken jedoch vor allem die Beschreibungen der eigenen Praktiken im buchstäblichen Sinne stilbildend. Die Bohemiens bringen ihre Verachtung für die bürgerlichen Konventionen durch ihre abgerissene Kleidung, ihre Ablehnung der entfremdeten Lohnarbeit oder des bürgerlichen Unternehmertums, durch das „Pumpen“ als Praxis des Gelderwerbs, die Idealisierung des Hedonismus und die Hingabe an Rausch und Depression gleichermaßen zum Ausdruck (vgl. u.a. Mühsam
1978 [1903]). Gegenüber dem Vernunftideal und dem Mäßigungsimperativ der bürgerlichen Kultur wird die Durchbrechung von Routinen zum Gebot, die im Alltag und in literarischen Werken als gesellige Zusammenkunft im öffentlichen Raum – also gerade nicht in der das (Klein‑)Bürgerliche symbolisierenden Privatheit – inszeniert wird und zwischen den Extremen der Selbstisolierung und des konventionensprengenden Feierns mit Fremden oszilliert. Mit diesen Praktiken wird das Leben als Kunstwerk gestaltet (vgl. Magerski
2015, S. 134 ff.).
Hinsichtlich der temporalen Ordnung fällt an der antibürgerlichen Haltung der Boheme nun auf, dass der emphatische Fortschrittsbegriff, der die klassentheoretische Kleinbürgerinvektive antreibt, zugunsten einer Hochbewertung des Dynamischen als Eigenwert in den Hintergrund verschoben wird. Die Gegenwart wird nicht als Grenzzone zwischen Vergangenheit und Zukunft konzipiert, sondern als etwas Momenthaftes verabsolutiert, worin die konsequente Ablehnung jeder Stagnation zum Ausdruck kommt. Ein Bohemien ist einer, der „mit dem Augenblick Fangball spielt“ (Mühsam
1906, S. 9). Bei Marx und Engels wurde die Stagnation, wie gesehen, als eine negativ bewertete Position im Modell des historischen Prozesses durch das Kleinbürgertum und seine Verhaftung in der historisch überkommenen Ordnung repräsentiert. Ähnliches zeigt sich in der Aussage Babs, der den Philister als jenen bestimmt, der „zu jedem Augenblicke zu sagen bereit ist: verweile doch, du bist ja ausgezeichnet“ (Bab
1921 [1914], S. 125), und sich so mit dem Bestehenden zufrieden zeigt.
Einerseits teilen die Bohemiens also mit der Kleinbürgerkritik die Verachtung des Stillstandes. Andererseits wird aber nun auch die auf kollektive Ziele ausgerichtete geschichtsphilosophische Zukunftsorientierung als philiströs, als eine zu überwindene Unterwerfung unter ein gesellschaftliches Zeitregime präsentiert, wie sich in der oben dargestellten Abwertung der Sozialdemokratie durch Mühsam zeigt. Die Organisierung des Proletariats habe, so seine Beobachtung, zu einer Bürokratisierung geführt, die sich nicht mehr wesentlich von den bereits älteren Institutionen des Staats und der Kirche unterscheide. Eine neue Kultur, für die die „Ausgestoßenen“ als Avantgarde fungieren, führe laut Mühsam nur „über das Grab“ dieser verfestigten und in ihrer Entwicklung stagnierenden Institutionen (Mühsam
1906, S. 5). Er referenziert damit das Motiv und den Gegensatz von Leben und Tod, den Brentano in seiner Philistersatire so stark betonte. Der Begriff „Fortschrittsphilister“ (Heym
1914, S. 593) erscheint somit unter den Bohemiens nicht mehr als ein in sich widersprüchliches Kompositum.
In den Spießerverdikten der Boheme zeigt sich mithin ein Ordnungsmodell, das wie seine Vorgänger die Positionierung in der Mitte zur Herabsetzung der bürgerlichen Lebensweisen verwendet und zugleich die eigene aufwertet. Gegenüber der Klassentheorie kann von einer Generalisierungstendenz gesprochen werden, die die Unterscheidung der Klassen des Kleinbürgers und der Bourgeoisie verwischt. Unter dem Schlagwort des Bürgerlichen bzw. Spießbürgerlichen wird, ähnlich wie in der Philistersatire der Romantik, die Abwertung mit Hilfe der Zuschreibungen von Konventionalität und Konformität sowie Mediokrität vorgenommen. Die Überschreitung der philiströsen Beschränktheit und ihrer normativen Grenzen ist Zeichen einer superioren Haltung, die diskursiv verbreitet wird. Eine klare oder gar kollektive Zukunftsvision entwickelt die Boheme dabei allerdings ebenso wie die Romantik kaum. Der starke Imperativ der Selbstexpression ist verbunden mit einer Hypostasierung des Momentanen und des Transitorischen, die in der Hochbewertung räumlicher und geistiger Mobilität zum Ausdruck kommt. Das steht dabei zwar der Prämierung des Kollektiven entgegen, wie sie der Klassentheorie zugrunde lag. Und dennoch beerbt das Spießerverdikt der Boheme insofern die klassentheoretische Variante, als hier die gesellschaftliche Mitte viel deutlicher als ein die Emanzipation verhindernder Ort der Macht thematisiert wird als dies in der fast noch spielerischen romantischen Philistersatire der Fall war.
In seiner bereits angeführten Studie hat Kreuzer die Nähe der Bewegungen der Subkulturen der 1960er-Jahre zur Boheme betont. Noch vor der Politisierung der Gegenkultur veröffentlicht, stehen ihm dabei v.a. die US-amerikanischen Beatniks und Hippies, die auch in Europa Fuß fassten, sowie die „Provos“ vor Augen (Kreuzer
2000 [1968], S. 20 ff.). In ihnen sammeln sich wiederum Nonkonforme, die ihre Ablehnung bürgerlicher Werte in literarischen Produkten, insbesondere aber in ihrer Performanz öffentlich inszenieren – nun jedoch erneut vor dem Hintergrund einer völlig anderen historischen Situation. Hinzuzufügen wären dieser Sammlung insbesondere im deutschen Kontext die Gammler, um die sich Mitte der 1960er-Jahre eine Debatte entspinnt, die wie in der Boheme einen Schwerpunkt in der Thematik der Ablehnung von „gesellschaftlicher Nutzarbeit“ entfaltet. Christine Magerski (
2015) hat diesen Gedanken aufgenommen und weitergeführt: Sie entdeckt in der Boheme einen „Prototyp der Moderne“, der mit seiner
Lebenskunst – inklusive der ihr inhärenten Ambivalenzen – einen Lebensstil entworfen habe, der bis in die Ära der „flüchtigen Moderne“ (Bauman) Wirkkraft entfalte.