Der Einzelhandel, die Logistik – bzw. genauer: die Containerlogistik – und der Finanzdienstleistungssektor gelten als digitale Vorreiterbranchen. Nicht umsonst waren Banken und Versicherungen, der Handel und logistiknahe Verwaltungsbereiche der Industrie bereits Gegenstand der Untersuchung von Baethge und Oberbeck (
1986) zu den Auswirkungen der damals noch neuen IuK-Technologien. Auch heute verweisen Direkt- bzw. Onlinebanken und -versicherungen sowie Fin- bzw. Insurtechs im Finanzdienstleistungssektor, elektronisch verwaltete Containerverkehre, Hochautomation und Lieferkettenplattformen in der globalen Logistik oder Onlinehandel und Technisierung im Einzelhandel darauf, dass der Einsatz neuer digitaler Technologien und neuer Geschäftsmodelle besonders hier zum Tragen zu kommen scheinen (siehe auch Pfeiffer
2019b). Zu allen drei Branchen gibt es laufende oder kürzlich abgeschlossene SOFI-Projekte. Anhand dieser Empirie
2, auf die wir hier nur sehr kursorisch eingehen können, wollen wir aufzeigen, welche unterschiedlichen Wege die Digitalisierungsentwicklung vor dem Hintergrund der je spezifischen Markt- und Wettbewerbsprozesse nimmt.
3.1 Der Einzelhandel – auf vielen Pfaden in die Digitalisierung
Der Einzelhandel ist mit rund 3,6 Millionen Beschäftigten und einem Umsatz von fast 580 Milliarden Euro (ca. 17 % des Bruttoinlandsprodukts) eine der größten Wirtschaftsbranchen der Republik (HDE
2020a; Zahlen für 2019, eigene Berechnung). Allgemein wird er als eine Branche betrachtet, in der die disruptiven Auswirkungen der Digitalisierung bereits besonders weit fortgeschritten sind. Das eigene Erleben von Geschäftsschließungen und zunehmenden Leerständen in den Innenstädten, die Klagen der Händler über den wachsenden Onlinehandel, Berichte über die Erfolge von Plattformunternehmen wie Amazon und Zalando und über die damit verbundene sichtbare Zunahme des innerstädtischen Paketverkehrs, aber auch zahllose Presseberichte und Studien zu neuen Technologien und neuen technologiebasierten Geschäftskonzepten, die oft zunächst in den fernen Metropolen Chinas oder der USA erprobt werden, verweisen, so scheint es, auf einen tiefgreifenden digitalisierungsgetriebenen Strukturwandel. Diesen, so die vielfach geäußerte Befürchtung, kann nur überleben, wer noch rechtzeitig auf den Digitalisierungszug aufspringt (Buss
2018a). Digitalisierungsrückstände werden dabei in beiden von der Literatur aufgegriffenen Dimensionen diagnostiziert.
Bezogen auf übergreifende Prozesse der Digitalisierung geht es um den scheinbar unaufhaltsamen
Siegeszug des Onlinehandels, der die Kaufkraft ins Internet ableitet und dem regionalen stationären Handel die Kunden wegnimmt. Nach Angaben des Handelsverbandes stieg der Umsatz des Onlinehandels im Vergleich zur Jahrtausendwende, und mit zusätzlichem Schub durch die Corona-Pandemie, bis 2020 auf das 46-fache. Auf ihn entfiel damit knapp die Hälfte des Umsatzzuwachses des gesamten Einzelhandels in den letzten 20 Jahren (HDE
2021a; eigene Berechnungen). Der Handel, so die Befürchtung, verliert also sukzessive seine Ortsbindung, sodass sich stationäre Händler – zumindest auch – auf das Onlinegeschäft einlassen müssen. Vordergründig scheint sich hier Staabs These des digitalen Kapitalismus zu bestätigen.
Bezogen auf betriebliche Prozesse der Digitalisierung geht es um die Technologienutzung im stationären Handel. Digitalisierung steht hier für die verschiedensten
Rationalisierungstechnologien zur Prozessautomatisierung und Prozessoptimierung, die gerade von kleinen und mittleren Handelsunternehmen im harten Wettbewerbsumfeld der Branche, so die verbreitete Einschätzung, nur unzureichend genutzt würden. Ungleichzeitigkeiten in der Umsetzung der neuen Technologien sind hier sicherlich auch auf betriebliche Pfadabhängigkeiten im Sinne von Hirsch-Kreinsen zurückzuführen. Unterstrichen wird der Eindruck verbreiteter Digitalisierungsrückstände durch vielfältige „Best Practice“-Berichte und Leitfäden zur Technisierung am „Point of Sale“ (siehe hierzu Buss und Walker
2021; sowie exemplarisch e‑tailment
2017; Mittelstand 4.0-Agentur Handel
2016; Röding et al.
2019). Auch wenn es sich hierbei oftmals um Berichte über Entwicklungsarbeiten, Prototypen und erste Anwendungsversuche handelt, extrapoliert eine Vielzahl an korrespondierenden Studien von Beratungsunternehmen und Technologieanbietern diese zu Trends und entwirft unter Bezugnahme darauf das Bild einer durchtechnisierten Welt des Handels von morgen (vgl. auch Buss
2018a; Buss und Walker
2021).
Doch lässt sich, dies zeigen unsere Erhebungen deutlich, aus der Nutzung oder Nichtnutzung digitaler Technologien nicht auf den Erfolg oder Nichterfolg eines Unternehmens schließen. Zum einen werden vielfach reale Umbruchprozesse im Handel oft vorschnell alleine auf die Digitalisierung und das Wachstum des Onlinehandels zurückgeführt, ohne ihre Wechselwirkungen mit anderen, längerfristigen Marktverschiebungen und Umbruchprozessen zu berücksichtigen. Zum anderen wird zu wenig zwischen den verschiedenen Vertriebsformen und Geschäftsmodellen des Handels unterschieden, mit denen sich ganz unterschiedliche Anforderungen an Digitalisierung und Personaleinsatz verknüpfen. Kurz: Die Digitalisierung schlägt nicht ungebrochen auf den Einzelhandel durch. Digitalisierung im Handel ist nicht
ein Prozess, sondern erfolgt auf
vielen Pfaden – online wie stationär.
3
3.1.1 Strukturwandel im Handel – eine lange Geschichte
Auch wenn die rasante Entwicklung des Onlinehandels sicherlich eine der für den Einzelhandel wesentlichsten Entwicklungen der letzten 20 Jahre ist, überdeckt dies leicht, dass sich dieser Prozess in einen umfassenderen und bereits seit langem laufenden Strukturwandel einbettet. Nur zu leicht werden die Probleme, mit denen insbesondere der klein- und mittelbetriebliche, vornehmlich inhabergeführte Handel zu kämpfen hat, auf die Erfolge der großen Onlinehändler zurückgeführt. Dabei ist der zugrundeliegende tiefgreifende strukturelle Wandel keine neue Entwicklung, sondern wird in der Literatur seit mindestens einem halben Jahrhundert thematisiert, und die dort bereits beschriebenen Trends lassen sich vielfach fortschreiben (siehe etwa Baethge und Oberbeck
1986; Dörge
1980; Glaubitz
2001;
2011,
2018; Gühlert
1990; Jahn
2017; Nitt-Drießelmann
2013; Wortmann
2003).
Bereits in der Nachkriegszeit setzt eine bis heute fortschreitende Ausdifferenzierung der bis dahin stark durch den inhabergeführten Fachhandel geprägten Vertriebsformen ein, die vor allem zu Lasten des klein- und mittelbetrieblichen Handels geht.
4 Zugleich hat sich der Anteil des Einzelhandels an den privaten Konsumausgaben deutlich reduziert (allein in den letzten 30 Jahren um 10 % auf 32 % im Jahr 2019) (Glaubitz
2001; HDE
2020a). Entsprechend ist die Entwicklung des Einzelhandels bereits seit langem durch einen harten Wettbewerb geprägt. Zum einen verschärft sich – insbesondere auch angetrieben durch die Discounter – der Preiswettbewerb zwischen den Unternehmen, die versuchen, durch Rabatte die Nachfrage zu beleben und ihre Marktanteile auszuweiten. Zum anderen kommt es einhergehend mit der Ausdifferenzierung der Vertriebsformen zu einer sukzessiven De-Spezialisierung und Ausweitung der Sortimente in Tiefe und Breite und einer bis heute anhaltenden Expansion der Verkaufsflächen (Glaubitz
2011; HDE
2020a).
5 Mit der Flächenexpansion gewinnen Standorte auf der „grünen Wiese“ an Bedeutung, die die immer größeren Geschäfte überhaupt erst ermöglichen, und der Handel verlagert sich räumlich zunehmend aus den Innenstädten an die Stadtränder und vom Land und den kleineren Städten in die größeren Zentren. Die hier nur angerissenen Entwicklungen und der damit in den letzten Jahrzehnten einhergehende harte Verdrängungswettbewerb gehen mit massiven Verschiebungen der Marktanteile zwischen den verschiedenen Vertriebsformen und entsprechenden Konzentrations- und Konsolidierungsprozessen
6 einher (dazu bereits Baethge und Oberbeck
1986).
Die Entwicklung des Onlinehandels findet also in einem hochkompetitiven, bereits seit langem durch tiefgreifende strukturelle Verwerfungen gekennzeichneten Umfeld statt. Der Anteil des Onlinehandels am gesamten Einzelhandel (einschließlich Versandhandel und Marktplätze) lag 2019 bei 11 % (Non-Food: 16 %) und wuchs im Pandemiejahr 2020 um 23 % auf 13 % (Non-Food: 18 %) (HDE
2020b,
2021a). Auch durch den von der Pandemie ausgehenden Online-Schub hat sich – zumindest bislang (Stand Herbst 2021) – das Verhältnis zwischen Onlinehandel und stationärem Handel also nicht grundlegend verändert: noch immer werden fast 90 % der Einzelhandelsumsätze (Non-Food: 82 %) stationär erwirtschaftet (HDE
2021a). In den letzten 20 Jahren finden sich in der Summe deutlich höhere Marktanteilsgewinne bei Discountern, Filialisten des Fachhandels und Fachmärkten, die ihren Marktanteil von einem Drittel auf fast die Hälfte der Einzelhandelsumsätze steigern konnten. Über fünf Sechstel der in diesem Zeitraum anfallenden Marktanteilsverluste entfallen dabei auf den nicht-filialisierten, in der Regel inhabergeführten klein- und mittelbetrieblichen Fachhandel, dessen Marktanteil sich allein seit der Jahrtausendwende auf heute knapp 16 % (2019) halbiert hat (HDE
2020a). Es ist davon auszugehen, dass diese Entwicklung durch die Corona-Pandemie eine Beschleunigung erfährt, da gerade der stationäre Fachhandel durch die Lockdown-Phasen besonders betroffen war, während der Lebensmittel führende Einzelhandel ein deutliches Wachstum verzeichnen konnte und sich Teile der Non-Food-Nachfrage nicht nur in den Onlinehandel, sondern auch zu Discountern, Verbraucher- und Supermärkten verschoben haben (HDE
2021b).
Entsprechend segregiert sind auch die Wettbewerbsstrukturen im Einzelhandel. Am einen Ende des Spektrums finden sich werte- bzw. qualitätsorientierte Geschäftsmodelle, wie sie vor allem noch im klein- und mittelbetrieblichen Fachhandel verfolgt werden. Im Zentrum stehen hier eine kundenorientierte Sortimentsvorauswahl sowie die direkte Kundenkommunikation und -beratung, die mitunter auch höhere Preise rechtfertigen. Dem stehen im stationären Handel die Geschäftsmodelle insbesondere von Discountern und Verbrauchermärkten gegenüber, die vor allem auf Kostensenkung und Sortimentsausweitung setzen. Deren Wettbewerbsstrategien profitieren gerade auch von der Größe und Einkaufsmacht der dahinterstehenden Konzerne und sind durch die Übertragung von Dienstleistungsfunktionen auf die Käufer*innen und eine systematische Ausdünnung von Beratungsleistungen gekennzeichnet. Daran knüpfen auch die Strategien des Onlinehandels an: Sieht man einmal von eher qualitätsorientierten Nischenstrategien ab, setzen Onlineshops vielfach darauf, den stationären Handel letztendlich mit denselben Instrumenten zu attackieren, mit denen große Unternehmen und Konzerne bereits seit den 1960er-Jahren den traditionellen Facheinzelhandel unter Druck setzen: einer noch höheren Angebotsbreite und -tiefe und einer aggressiven Preisgestaltung. Damit und mit seinen Marktanteilsgewinnen trägt der Onlinehandel sicherlich zu einer weiteren Verschärfung des Wettbewerbs im Handel bei (Buss und Walker
2021).
3.1.2 Grenzen des Wachstums im Onlinehandel
Beim Onlinehandel handelt es sich um eine mittlerweile gereifte Vertriebsform, die sich als fester Bestandteil des Einzelhandelswettbewerbs etabliert hat. Mit seinem steten Wachstum und einem Gesamtumsatzvolumen von mittlerweile fast 73 Milliarden Euro (2020) hat er sich zu einem wesentlichen Treiber des Einzelhandelswachstums entwickelt. Allerdings werden die anfänglich sehr hohen Wachstumsraten schon lange nicht mehr erreicht und Grenzen des Wachstums trotz des Online-Schubs in der Pandemie erkennbar (HDE
2021a; Jahn
2017).
7 Seriöse Schätzungen, so die befragten Experten des Handelsverbandes, sähen den Onlineanteil am Einzelhandel perspektivisch bei maximal einem Viertel des Gesamtumsatzes, den bei weitem größeren Umsatzanteil also auch auf absehbare Zeit im stationären Handel.
8 Unterstrichen wird dies auch durch Konsument*innenbefragungen des Handelsverbandes während der Corona-Pandemie, die zwar auf einen Wandel der Wert- und Preisüberlegungen der Konsument*innen und ihrer Ansprüche an den stationären Handel verweisen, aber mitnichten als ein Abgesang auf den stationären Handel zu lesen sind (HDE
2021b). Auch die Wettbewerbsstrukturen des Onlinehandels haben sich schon längst verfestigt. Fast zwei Drittel des Onlinehandels entfallen auf Internetunternehmen und Versandhändler, deren Umsatzzuwächse über dem Umsatzwachstum der Online-Branche liegen. Unangefochtener Platzhirsch ist Amazon – als Vollsortimenter einer der Hauptgewinner des pandemiebedingten Onlinewachstums 2020 – mit einem Marktanteil von 53 % des deutschen Onlinehandels (2020; inklusive Amazon Marketplace), mit Abstand gefolgt von der Otto Group und Zalando (EHI Retail Institute
2019d; HDE
2021a).
Bei näherer Betrachtung der großen Onlinehändler wird allerdings deutlich, dass die Goldgräberstimmung der Anfangsjahre vorbei ist: Selbst die Gewinne der großen Onlinehändler entsprechen bei weitem nicht dem Wachstum ihrer Umsätze, sondern bleiben, wie Brendel (
2020) am Beispiel von Amazon, Otto und Zalando aufzeigt, deutlich dahinter zurück. Noch 2019 machte Amazon im internationalen Onlinehandel rund 1,7 Milliarden US-Dollar Verlust (Amazon
2020). Durch den von den Anti-Corona-Maßnahmen ausgehenden Schub für den Onlinehandel konnte das Unternehmen ab dem zweiten Quartal 2020 überhaupt erstmals Gewinne und für das Gesamtjahr 2020 bei einem Nettoumsatz von über 104 Milliarden Dollar schließlich einen Ertrag von 717 Millionen Dollar vermelden.
9 Die Quartals- und Jahresabschlüsse des Konzerns zeigen dabei deutlich, in welch engem Korridor sich die Umsätze und Kosten des internationalen Onlinegeschäfts entwickeln (Amazon
2021; Amazon Quartalsberichte
2020,
2021). Die Gründe für die hohen Kosten liegen vor allem in den hohen und steigenden Logistikaufwänden und Retourenkosten, die insbesondere die Kosten der auf Groß- und Vollsortimente ausgerichteten großen Onlinehändler wie Amazon in die Höhe treiben (Brendel
2020; EHI Retail Institute
2019a; ver.di
2019). Vor diesem Hintergrund entfaltet sich im Onlinehandel ein harter, stark preisgetriebener Wettbewerb (siehe auch Buss und Walker
2021).
Aufgrund des Wettbewerbsdrucks und der anhaltenden Konzentrationsprozesse bestehen gerade für kleinere und mittlere Anbieter jenseits von kleineren Marktnischen mittlerweile hohe Zugangsbarrieren zu den Online-Märkten. In Bezug auf Onlineshops sehen kleine und mittlere Einzelhändler den Markt als weitgehend von den großen Konzernen besetzt an. Zugleich sind eigene Onlinestrategien gerade für KMU, wie unsere Untersuchungen zeigen, mitunter sehr anforderungsvoll (Buss
2018a). Vor allem die Einrichtung und die operativen Kosten des Onlinegeschäfts können KMU leicht überfordern. Entsprechend ist der Anteil der Einzelhändler mit eigenem Onlineshop zwischen 2010 und 2020 um 15 % zurückgegangen (HDE
2021a).
Stattdessen orientieren sich gerade Einzelhandels-KMU verstärkt auf die z.B. von Amazon, Otto, Zalando, ebay oder auch der Verbrauchermarktkette Kaufland angebotenen Online-Marktplätze, die inzwischen 44 % des gesamten deutschen Online-Einzelhandels ausmachen. Allein der Amazon Marketplace umfasst 34 % des gesamten deutschen Onlinehandels (HDE
2021a). Die Marktplatzstrategie stellt eine Antwort sowohl auf die Kostenprobleme der großen Onlinehändler wie auf die Überforderung kleinerer stationärer Händler dar. Online-Marktplätze wie der Amazon Marketplace sind Verkaufsplattformen, die die Angebote einer Vielzahl von Händlern in marktplatzeigenen Kategorien und in suchmaschinenoptimierter Weise zu einem umfassenden Marktplatzsortiment zusammenfassen. Diese Infrastruktur entlastet kleinere Händler nicht nur vom Aufbau eines eigenen Onlineshops. Vor allem bietet sie ihnen die Möglichkeit, mit geringem Aufwand auch mit kleinen Sortimenten Onlinehandel zu betreiben: Fast 80 % der Multi-Channel-Händler realisieren weniger als 10 % ihres Umsatzes im Onlinehandel, 26 % sogar nur unter einem Prozent (HDE
2019b). Die Plattformbetreiber verdienen hingegen nicht nur an den Aktivitäten der dort agierenden Händler mit. Für Amazon z. B. erweitern die Angebote dieser Händler das nach außen als Amazon vertretene Warenangebot, während die dabei gesammelten Daten dem Unternehmen bei der Steigerung der eigenen Umsätze helfen (Engels
2019). Die Dritthändler stehen so als Teil der Plattform nicht nur im Preiswettbewerb mit anderen Händlern und dem Plattformbetreiber, sondern müssen sich wie im Fall des Amazon Marketplace auch die Fulfillment-Bedingungen diktieren lassen. Die Online-Marktplätze werden für sie immer stärker zum unumgänglichen Gatekeeper im Kundenzugang, für den sich die Plattformbetreiber von den Händlern bezahlen lassen – Gründe, die so manchen der befragten Händler insbesondere aus dem Fachhandel abschrecken. Insoweit ist Staabs (
2019) Beschreibung einer Privatisierung von Märkten durch die großen Plattformbetreiber durchaus zutreffend. Allerdings handelt es sich nur um einen sehr begrenzten, wenngleich schnell wachsenden Ausschnitt des Einzelhandels: 2020 betrug der Marktanteil der Online-Marktplätze am gesamten deutschen Einzelhandel 7 % (2019: 4 %; eigene Berechnungen nach HDE
2020a, b,
2021a). Für den Großteil der Einzelhandelsunternehmen steht beim Thema Digitalisierung vielmehr noch immer der Wettbewerb im stationären Handel im Zentrum.
3.1.3 Geschäftsmodelle und Digitalisierung im stationären Handel
Ein Digitalisierungsthema mit besonderer öffentlicher Aufmerksamkeit ist im stationären Handel der Technologieeinsatz im Verkauf (siehe auch Buss und Walker
2021). Vielfältige Technologieentwicklungen legen hier für die nächsten Jahre eine drastische Veränderung der Verkaufsprozesse im stationären Handel nahe (siehe etwa Bitkom
2017; Knoppe
2018; Krüger und Kahl
2017). Hinter den entsprechenden Prognosen steht allerdings vielfach die Vorstellung, dass das, was technologisch möglich ist, auch praktisch realisiert wird. Auch in den von uns befragten Unternehmen wird die technologische Entwicklung aufmerksam beobachtet. In den Gesprächen wurde aber auch deutlich, dass die Unternehmen Innovationen sehr kritisch auf ihre Kosten und ihren Nutzen für die bestehenden Prozesse hin prüfen und dass sich digitale Innovationen oftmals am Geschäftsmodell brechen.
Dies gilt besonders für die befragten klein- und mittelbetrieblichen inhabergeführten Geschäfte des Facheinzelhandels. In ihrem Geschäftsmodell steht die direkte Kommunikation mit den Kund*innen, das Verkaufs- und Beratungsgespräch im Zentrum. Während die Unternehmen einer Digitalisierung der Backoffice-Prozesse oft sehr aufgeschlossen gegenüberstehen (Buss
2018a), werden Digitalisierungsprozesse im Verkauf sehr argwöhnisch betrachtet, weil sie leicht das eigene Geschäftsmodell konterkarieren können.
Eine in der Presse immer wieder Aufmerksamkeit erregende Innovation sind beispielsweise sogenannte
„intelligente“ Umkleidekabinen und interaktive smarte Spiegel („Magic Mirror“) für den Bekleidungseinzelhandel. Diese können je nach Auslegung Kleidungsstücke erfassen, auf das virtuelle Spiegelbild der Kundin bzw. des Kunden projizieren, Produktinformationen anzeigen und diese um Informationen zu Accessoires ergänzen, Styling-Vorschläge machen oder es ermöglichen, virtuell im Ladensortiment zu stöbern, Artikel in anderen Größen anzufordern, alternative und ergänzende Warenvorschläge abzurufen und möglicherweise gleich aus der Umkleidekabine heraus online zu bestellen (siehe etwa ZDE
2018). In den befragten kleinen und mittelständischen Bekleidungsfachgeschäften sieht man diese Innovation jedoch aus zwei Gründen, die eng mit dem von diesen Unternehmen verfolgten Geschäftsmodell zusammenhängen, eher skeptisch (siehe auch Buss
2018a): Erstens passen solche Geräte nicht zur Sortimentsstruktur des Facheinzelhandels, da die einzelnen Kleidungsstücke mit RFID-Chips ausgestattet sein müssen. Dies kann in herstellergetriebenen Geschäftsmodellen („Vertikale“), in denen Einzelhandelssortiment und Produktion eng aufeinander abgestimmt sind, leicht ab Fabrik sichergestellt werden. Demgegenüber ist im Facheinzelhandel aber gerade die Vielfalt und Einzigartigkeit des Sortiments ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal. Daher beziehen die Geschäfte ihre Ware oftmals von einer Vielzahl von teils auch kleinen Herstellern, die eine solche Ausstattung mit RFID-Chips nicht gewährleisten. Hier müsste der einzelne Händler also jedes einzelne Kleidungsstück selber mit einem solchen Chip versehen – „das wäre ein Rückfall in die Steinzeit“ (Interview Händler 08). Noch viel stärker wiegt allerdings, dass ein solches Gerät das im Geschäftsmodell des Facheinzelhandels essentielle Verkaufsgespräch auszuhebeln droht. Im Zweifelsfall, darauf verweisen gleich mehrere Händler, habe das Verkaufspersonal nicht nur „ein besseres Auge“ dafür, ob ein Kleidungsstück gut sitzt, sondern vor allem auch, ob es zum Kunden oder zur Kundin passt. Gute Verkäufer*innen kennen das vorhandene Sortiment und können entsprechende Warenalternativen und ergänzende Artikel vorschlagen. Demgegenüber folgen die „Vorschläge“ eines smarten Spiegels vorab festgelegten Kriterien und nicht den individuellen Kund*innenbedürfnissen.
10
Ähnliche Einwände werden in den befragten Facheinzelhandelsgeschäften auch in Bezug auf den Einsatz von
Tablets und Smartphones geäußert. Der Einsatz dieser Geräte als mobile Assistenten im Verkauf gilt der vom Bundeswirtschaftsministerium finanzierten „Mittelstand 4.0-Agentur Handel“ als wichtiges Element in der Digitalisierung des Einzelhandels, da er durch eine zielgerichtete und flexible Warenpräsentation und zusätzliche Informationen und Servicefunktionen die direkte Interaktion zwischen Mitarbeiter*innen und Kund*innen unterstütze (Mittelstand 4.0-Agentur Handel
2016,
2017). Auch in den von uns untersuchten Einzelhandels-KMU ist die Nutzung von Tablets und iPads relativ verbreitet. Gerade in Bezug auf die Interaktion zwischen Mitarbeiter*innen und Kund*innen sehen die interviewten Geschäftsführer*innen dies allerdings eher als Störfaktor. Genutzt werden die Geräte vor allem zur Prozessrationalisierung etwa in der Lieferantenkommunikation.
Etwas anders gelagert sind die Digitalisierungsstrategien in den eher preisgetriebenen großflächigen und auf Selbstbedienung ausgerichteten Vertriebsformen des Einzelhandels wie Supermärkten und großen Verbrauchermärkten. Hier spielen Beratungsprozesse keine vergleichbare Rolle; den Rationalisierungseffekten der Digitalisierung kommt hingegen in der Verwaltung der Sortimente eine deutlich größere Bedeutung zu. Trotzdem stößt die Digitalisierung auch hier auf Grenzen. Ein Beispiel ist die Rationalisierung der Kassenprozesse durch Ausweitung des Selbstbedienungsprinzips mittels
Selbstbedienungs‑, Self-Checkout- oder Self-Scanning-Kassen. Obwohl die Technologie vorhanden ist, breiten sich solche Lösungen nur langsam aus. Die Gründe liegen dabei weniger, wie zu vermuten wäre, in betrieblichen Pfadabhängigkeiten, wie sie Hirsch-Kreinsen (
2018a, b) für die Industrie herausarbeitet, sondern in den unterschiedlichen Geschäftsmodellen der Einzelhändler: Einer aktuellen Erhebung des Kölner Einzelhandelsinstituts (EHI Retail Institute
2019b, c) zufolge verfügen bundesweit mittlerweile gerade einmal rund 900 Geschäfte über Selbstbedienungs- oder Self-Scanning-Kassen. Rund zwei Drittel der bundesweit insgesamt rund 4760 SB-Kassen finden sich im Lebensmitteleinzelhandel, der sich, so das EHI, offensichtlich aufgrund von Kundenstruktur, Kundenfrequenz und Einkaufskorbgröße besonders gut für den Self-Checkout eigne. Aber selbst hier stellen SB-Kassen nur einen verschwindenden Anteil der Gesamtkassenzahl. Als Gründe hierfür nennt das EHI die nach wie vor von den Kund*innen präferierte Barzahlung sowie die hohe Störanfälligkeit der Geräte. Von den von uns befragten Unternehmen wird ein weiterer Grund angeführt, der die Begrenztheit der Rationalisierungseffekte verdeutlicht: Die SB-Kassen erfordern nicht nur nach wie vor Personal zur Kontrolle und Unterstützung der Kund*innen. Vor allem sind die Kassen gar nicht auf die zumeist größeren Einkäufe der Hauptzielgruppe dieser Märkte ausgelegt. Diese lassen sich noch immer bequemer und für alle Seiten schneller an den traditionellen Kassen mit ihrem trainierten Personal abwickeln, was insbesondere die Lebensmitteldiscounter bislang eher von SB-Kassen absehen lässt. Stattdessen dienen die SB-Kassen in den befragten Märkten vor allem zur Beschleunigung von Kleineinkäufen etwa von Jugendlichen.
3.2 Seehandel und maritime Containerlogistik
Eine weitere Branche, in der die Digitalisierung bereits sehr früh einsetzte, ist die Logistik und insbesondere die Containerlogistik. Der wichtigste Bereich sind hier maritime, insbesondere transkontinentale Transporte: Über die Hälfte des europäischen Außenhandels wird über die Seehäfen der EU-Staaten abgewickelt. Ein großer Teil dieser Transporte im transkontinentalen Güterverkehr erfolgt in Containern. Etwa die Hälfte des containerisierten Außenhandels der EU entfällt dabei auf die sogenannte Nordrange mit den Häfen Rotterdam, Antwerpen, Bremerhaven und Hamburg (siehe auch Buss
2018b). Gerade in der Containerlogistik stehen die Entwicklung von Transport und Computerisierung/Informatisierung/Digitalisierung von Beginn an in einem engen Wechselverhältnis. Seit seiner Einführung in den 1960er-Jahren hat der Container die gesamte Logistik revolutioniert und stellt eine wesentliche Voraussetzung der seitdem ausgreifenden Globalisierung der Produktion dar. Im Mittelpunkt steht dabei die Standardisierung der Art und Weise, wie Fracht verpackt und bewegt wird. Durch die globale Normierung der Stahlboxen und der für ihren Transport benötigten Infrastrukturen konnten die Prozesse entlang der Transportkette weitgehend vereinfacht werden. Die Transportdienstleistung löste sich vom Charakter des zu transportierenden Gutes: „One doesn’t need to know what’s in the box, just where it needs to go.“ (Posner
2018; vgl. auch Buss
2020) Durch Verladung der Güter in identische Stahlboxen wurde es möglich, die bis dahin bestehenden Brüche in der Lieferkette zu überwinden und das Zusammenspiel der verschiedenen Verkehrsarten als systemischen Verbund zu denken und „rechenbar“ zu machen (Klose
2009; Levinson
2006,
2020; Posner
2018). Die Entwicklung der Transport- und Kommunikationsnetzwerke ist in der Logistik entsprechend eng miteinander verwoben – „Containerterminals und die Organisation logistischer Ketten gehören zu den frühesten zivilen Anwendungen von Computern“ (Klose
2009, S. 197). Dies legt nahe, dass die Digitalisierung in der Branche auch heute besonders schnell voranschreitet und transportkettenweite plattformbasierte Geschäftsmodelle hier besonders leicht zum Durchbruch kommen. Allerdings sind die Digitalisierungsprozesse auch in diesem Fall stark durch die branchenspezifischen Wettbewerbsstrukturen und -dynamiken geprägt.
3.2.1 Entwicklung des Wettbewerbs in der maritimen Wirtschaft
War die maritime Wirtschaft – Seetransport und Seehafenumschlag – lange Zeit von hohen Wachstumsraten und ausgelasteten Kapazitäten gekennzeichnet, die teils auch eine engere Kooperation nötig machten, um die zu transportierenden Gütermengen zu bewältigen, setzte mit der Wirtschaftskrise 2008 in der maritimen Containerlogistik eine tiefe und anhaltende Krise ein. Nach zwei Jahrzehnten mit hohen Wachstumsraten brachen die Transportmengen abrupt ein und pendeln sich in den 2010er-Jahren dann in etwa auf dem Vorkrisenniveau ein. Vor der Krise georderte neue größere Schiffe und begonnene große Hafenausbauprojekte verschärfen in dieser Phase die Auslastungsprobleme von Reedereien und Hafenwirtschaft. Gerade in den Nordrange-Häfen steigt zunächst der Kostendruck. Die Häfen sind in den 2010er-Jahren durch hohe Überkapazitäten gekennzeichnet, während gleichzeitig Seehäfen im Mittelmeer und in der Ostsee im Wettbewerb an Bedeutung gewinnen. Auf See entwickelt sich zugleich ein harter Verdrängungswettbewerb. Die großen Reedereien versuchen mit immer größeren Schiffen Kostenvorteile zu erzielen, verschärfen so aber auch ihr Überkapazitätsproblem. Auch große Reedereien können dem Wettbewerbsdruck zum Teil nicht mehr standhalten, und es kommt zu massiven Konzentrations- und Konsolidierungsprozessen. In der Folge beherrschen heute etwa ein Dutzend Großreedereien, die sich in drei Allianzen zusammengeschlossen haben, 90 % des Marktes und verfügen somit auch über eine hohe Verhandlungsmacht gegenüber den Hafenwirtschaftsunternehmen, die sie regional gut gegeneinander ausspielen können (Buss
2018b; Hapag-Lloyd
2021). Für die Häfen, die immer weniger alleine um Umschlagmengen und immer stärker um einen Platz in den Liniennetzwerken der drei Allianzen konkurrieren, steigt damit neben dem Kostendruck zugleich auch der Qualitätsdruck in Bezug auf Umschlag und Hinterlandanbindung.
Diese Dynamik erfährt durch die Corona-Pandemie eine deutliche Verschärfung. Nach dem globalen wirtschaftlichen Einbruch im ersten Halbjahr 2020 steigt die Nachfrage insbesondere nach in Asien produzierten Waren im zweiten Halbjahr 2020 vor allem in Nordamerika und Europa abrupt und deutlich an. Ab Ende 2020 führt das Wechselspiel von globalen Fabrik- und Hafenschließungen, weltweit hoher Güter- und Transportnachfrage, immer größeren Schiffen mit mehr umzuschlagenden Containern, Verzögerungen im Umschlag, steigenden Lagerzeiten in den Terminals, allmählich verstopfenden Häfen, überlasteten Hinterlandinfrastrukturen, steigenden Wartezeiten der Schiffe vor den Häfen, hohen Verspätungen in den transkontinentalen Linienverkehren sowie unvorhergesehenen Transportkettenstörungen wie etwa der zeitweiligen Blockade des Suezkanals im März 2021 oder verschiedenen Naturereignissen (Stürme, Hochwasser) die globalen Lieferketten an den Rand ihres Zusammenbruchs. In der maritimen Wirtschaft kommt es aufgrund der deutlich gestiegenen Wartezeiten der Schiffe und Umlaufzeiten des Transportequipments (Container, Paletten) zu einer zunehmenden Verknappung der Transportkapazitäten und in der Folge zu einer Explosion der Frachtraten auf See, von der vor allem die großen Containerreedereien mit noch nie gesehenen Rekordgewinnen profitieren. Mit einer Auflösung der Situation rechnen die beteiligten Akteure frühestens in der zweiten Jahreshälfte 2022. Als vorläufiges Resümee der Pandemie (Stand Herbst 2021) lässt sich vor diesem Hintergrund festhalten, dass sich die Machtverhältnisse in der maritimen Wirtschaft weiter zugunsten der großen Reedereien und Allianzen verschieben. Diese können den anderen Akteuren (Versender, Spediteure, Häfen) nicht nur die Bedingungen diktieren, sondern verfügen nun auch über große Ressourcen, um sich in Hafenterminals und Hinterlandtransportdienste einzukaufen. Diese Entwicklungen prägen auch die Digitalisierungsprozesse der Branche.
3.2.2 Wettbewerb und Digitalisierung in der maritimen Containerlogistik
Wie im Einzelhandel sind auch in der Containerlogistik zwei Ebenen der Digitalisierung zu unterscheiden. Zum einen geht es um die Automatisierung und Digitalisierung der internen Prozesse. Bereits für einen einzelnen Akteur wie ein Hafenterminal oder eine Reederei ist ein reibungsloser Ablauf ohne elektronische Datenverarbeitung undenkbar: Die größten Containerfrachter transportieren inzwischen bis zu 24.000 Standardcontainer (TEU), von denen in jedem Hafen mehrere tausend gelöscht oder geladen werden. Allein in den vier Containerterminals des Hamburger Hafens wurden nach Angaben des Hafens im Jahr 2019 über neun Millionen TEU (2020 8,5 Millionen TEU) umgeschlagen, für die jeweils Umschlag‑, Transport- und Lagerprozesse zwischen Seeschiffen, Containerlagern und den verschiedenen Hinterlandtransportmitteln zu koordinieren waren. In der durch die Pandemie ausgelösten Transportkettenkrise beschleunigt sich der bereits seit langem zu beobachtende Trend zu immer größeren Schiffen weiter. Es wächst nicht nur die durchschnittliche Schiffsgröße und Umschlagmenge der Hafenanläufe, sondern es werden auch eine ganze Reihe neuer Megafrachter bei den Werften geordert. Mit dem Einsatz immer größerer Frachter konzentrieren sich die früher auf mehrere Schiffe verteilten Umschlagmengen räumlich und zeitlich, und damit steigen die Anforderungen an die Terminals, die internen Prozesse möglichst reibungsfrei zu gewährleisten.
Die Standardisierung der Container und der sie umgebenden Technologien ermöglicht ein hohes Maß an Automatisierung, die seit Einführung des Containers auf immer mehr Prozesse ausgreift. Bereits zur Jahrtausendwende wurden in einem damals neuen Hamburger Containerterminal Formen der Vollautomatisierung der landseitigen terminalinternen Transport- und Lagerprozesse verwirklicht, die das Terminal heute noch zu einem der modernsten der Welt machen. Aufgrund der wenig stabilen seeseitigen Rahmenbedingungen (Tidenhub, Wind, Wellengang etc.) erweist sich hingegen eine Automatisierung der Containerbrücken zur Be- und Entladung der Frachter nach wie vor als schwierig, sodass sich manuell gesteuerte Brücken trotz der Kostenvorteile einer Automation oftmals als produktiver erweisen. Wie im Einzelhandel findet entsprechend auch in der Hafenwirtschaft eine genaue Abwägung zwischen Automationsvorteilen, hohen Investitionskosten und Wettbewerbssituation statt, auch wenn an eine Automatisierung teils hohe Technologieerwartungen (Faust
2021) geknüpft werden und in den landseitigen Prozessen derzeit teils umfangreiche Automatisierungsprojekte in Planung sind.
Zum anderen geht es aber auch um die übergreifende Koordination der Transportabläufe. Die maritime Transportkette zergliedert sich in Vor‑, Haupt- und Nachlauf. Vor- und Nachlauf bezeichnen den Transport der Güter (in der Regel per LKW und Bahn) vom Entsender zum Hafen bzw. vom Hafen zum Empfänger. Der Hauptlauf bezeichnet den Seetransport. An Knotenpunkten wie Bahnterminals und insbesondere den Containerterminals der großen Seehäfen treffen die verschiedenen Transportketten zusammen, und die Transporte werden neu geordnet. Dabei werden die Güter im Vorlauf zu immer größeren Einheiten (z.B. Palette, Container) und Transporten (z.B. LKW mit zwei Containern, Güterzug mit max. 100 Containern, Containerfrachter mit bis zu 24.000 Containern) zusammengefasst und im Nachlauf wieder schrittweise vereinzelt. An den vielfachen Umschlag- und Lagervorgängen ist eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Akteure beteiligt, deren Aktivitäten entlang der entsprechend fragilen und komplexen transkontinentalen Transportketten über die unterschiedlichen Verkehrsträger und Transportmittel hinweg aufeinander abzustimmen sind. Aus einer Logistikperspektive würde sich so eine Koordination idealerweise über die gesamte Transportkette erstrecken und auch die terminalinternen Prozesse umfassen. Die Branche bietet sich damit, so scheint es, für Lösungen an, wie sie Staab (
2019) als aufziehenden digitalen Kapitalismus diskutiert. Die Digitalisierung verspricht hier neue Lösungen von einem verbesserten Informationsaustausch und einer höheren Transparenz zwischen den Transportkettenakteuren bis hin zu neuen Plattformlösungen zur Koordination der gesamten Kette (BMVI
2018; BVL
2017). In Teilen findet eine solche Abstimmung auch statt. So koordiniert beispielsweise das Hamburg Vessel Coordination Center (HVCC) als neutrale, überbetriebliche Koordinationsstelle die Schiffsverkehre im Hamburger Hafen und entlang der Elbe und tauscht dazu auch Informationen mit Vor- und Folgehäfen aus.
Umfassendere Umsetzungsversuche einer digital gestützten überbetrieblichen Koordination stoßen jedoch – zumindest bislang – eher auf Hindernisse. Überregional stehen dem zum einen regionale Pfadabhängigkeiten wie etwa die Verbreitung unterschiedlicher, miteinander inkompatibler Terminal-Operating-Systeme in Asien, Europa und den USA entgegen (Neilson et al.
2018). Und auch die verschiedenen Nordseehäfen betreiben eigene, dem HVCC vergleichbare Koordinationsplattformen, auch wenn die Konsequenzen nicht so drastisch sind. Zum anderen und vor allem aber bricht sich die Digitalisierung der Transportkettenprozesse auch hier an den Wettbewerbsstrukturen und an den Geschäftsmodellen der beteiligten Akteure. Ihre Umsetzung bedürfte zunächst, so (vorsichtig formulierend) der wissenschaftliche Beirat des Bundesverkehrsministeriums, eines „Überdenkens der Kommunikations‑, Koordinations- und Kooperationspolitiken der Akteure der deutschen Seehäfen sowie der maritimen Wirtschaft und Logistik“ (BMVI
2018, S. 3). Die Akteurskonstellationen in den Transportketten sind nicht nur durch ein hohes Maß an Heterogenität geprägt, sondern auch durch einen allgemeinen Trend zur vertikalen Expansion und eine damit wachsende Konkurrenzhaftigkeit der Beziehungen entlang der Transportkette, die sich auch auf die Digitalisierungsprozesse auswirkt.
Zwar steigt der Druck auf die Akteure, systemische Antworten zu finden. Gerade im auf der materiellen Ebene weitgehend standardisierten Containertransport stehen Informationsgewinnung und -verarbeitung im Zentrum der Logistikprozesse. Wesentliche Rationalisierungspotenziale liegen in einer besseren Transportkettenkoordination und im Abbau von Friktionen im Lieferfluss, die gerade auch auf der informationellen Ebene liegen. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich nun aber in der Vertikalen ein Machtkampf in der Transportkette. Große Reedereien wie der dänische Weltmarktführer Maersk versuchen, ihren Einfluss auf die komplette Transportkette auszubauen, um ihren Kunden „Tür-zu-Tür“-Angebote machen zu können, und stellen damit die bestehende Governance der Transportkette in Frage. Zum einen übernehmen sie zunehmend Containerterminals, wofür ihnen die aktuelle Situation am pandemiegeprägten Containertransportmarkt die notwendigen Mittel verschafft
11, zum anderen aber ist ihr Verhältnis gegenüber den von ihnen nicht beherrschten Akteuren zunehmend auch durch einen Machtkampf um die Hoheit über die Daten geprägt. „Die Reeder sagen, wenn wir alle Daten haben und das organisieren, dann können wir das doch einfach ausrollen“ (Vorstandsmitglied Hafenwirtschaftsunternehmen).
Die Hafenwirtschaftsunternehmen sehen sich damit aber in ihrer Autonomie bedroht und verstärken ihrerseits die Bemühungen zur stärkeren Koordination und Steuerung der an den Hafenumschlag anschließenden Prozesse. Insbesondere bauen sie sowohl ihre Aktivitäten im Hinterlandtransport als auch ihre Bemühungen um eine stärkere Digitalisierung vor- und nachgelagerter Prozesse aus, „um nicht in die Rolle eines reinen Betriebsumschlagsplatzes zu kommen“ (Vorstandsmitglied Hafenwirtschaftsunternehmen). Die Beispiele reichen von der digitalen Koordination der landseitigen Hafen- und Hinterlandverkehre bis zu neuen Formen der Auftrags- und Zahlungsabwicklung über Blockchain und digitale Währungen. Zwar klingt hier vieles noch nach „Zukunftsmusik“; wichtig seien solche Projekte aber, so ein Manager, um lernen und mögliche neue Entwicklungen antizipieren zu können.
Aber auch wenn sich die Hafenwirtschaftsunternehmen um die Optimierung übergreifender Prozesse bemühen, ist das primäre Ziel die frühzeitige Absicherung der
eigenen Geschäftsfelder. Die gerne mit dem Container verknüpfte Vorstellung linearer Transportketten und fließender Güterströme von der Produktion bis zum Einzelhandel muss hier vielmehr ergänzt werden um die oft ausgeblendete Akteursperspektive: Konstituiert wird die Transportkette durch eine Vielzahl konkurrierender und miteinander oft auch kollidierender logistischer Akteure, deren Blickfeld durch die eigene Reichweite begrenzt wird und bei weitem nicht die gesamte Logistikkette erfasst (Gregson et al.
2017; Tsing
2009). Digitalisierungsprozesse orientieren sich damit auch in der Logistik immer an den Interessen des einzelnen Unternehmens, für das nicht unbedingt die ungestörte Gesamt-Transportkette im Zentrum steht. In der Umsetzung von Digitalisierungsprojekten streben die Unternehmen immer danach, EDV-Systeme in ihrem Sinne auszulegen, auch wenn sie dadurch Probleme an anderer Stelle und für andere Akteure erzeugen und somit neue Friktionen für den Gesamtprozess verursachen.
12 Genauso, dies zeigen unsere Expertengespräche, werden die Unternehmen, sobald es um die Koordination und den Datenaustausch mit anderen Unternehmen geht, vorsichtig, da mit der eigenen Informationshoheit zugleich auch die
Claims des eigenen Geschäftsmodells abgesteckt werden. Entsprechend habe mit der Digitalisierung, so ein Hafenmanager, die Kommunikation zwischen den Unternehmen eher abgenommen. Projekte zum Aufbau einer übergreifenden vertikalen Kooperation sind vor diesem Hintergrund oftmals dadurch gekennzeichnet, dass sie Wettbewerber ausschließen. Digitalisierung trägt hier also nur begrenzt zu einer besseren Koordination und Steuerung der gesamten Transportkette bei. Stattdessen entsteht im Ergebnis, so Gregson et al. (
2017), ein Flickenteppich von Dateninformationssystemen, der durch konkurrierende Unternehmensinteressen geprägt ist.
3.3 Finanz- und Versicherungsdienstleistungen – Entstehung hybrider Ökosysteme
Die „digitale Mobilmachung“ erfasst seit einigen Jahren auch Banken und Versicherungen. Sie trifft dabei auf bereits hochgradig automatisierte, informatisierte und digitalisierte Geschäftsprozesse (BMWi
2018; Bitkom
2020a). Hierzu trägt wesentlich bei, dass Bank- und Versicherungsprodukte selbst nahezu vollständig informationsbasiert sind (Stobbe
2006; Alt und Puschmann
2016). Bereits in den 1970er-Jahren fand auf der Grundlage einer breitflächigen Einführung von IuK-Technologien ein Wandel von Geschäftsmodellen und Rationalisierungsstrategien statt, der mit dem Begriff „systemische Rationalisierung“ gefasst wurde (Baethge und Oberbeck
1986).
13
Gleichwohl propagieren vor allem externe Promotoren des aktuellen Digitalisierungsdiskurses auch für die Finanzdienstleistungsbranche die unabdingbare Notwendigkeit neuer technisch basierter Branchenleitbilder; als Orientierungspunkte werden dabei die datengetriebenen, plattformbasierten Geschäftsmodelle und „Produkte“ sogenannter Fin- bzw. Insurtech-Firmen
14, von Vermittlungsportalen wie z.B. „Check24“ oder von „Big Tech“-Firmen wie Apple, Google, Amazon oder Facebook empfohlen. „Plattform werden oder sterben“ (Heinemann und Kannen
2020), lautet sowohl in der interessierten Wirtschaftspresse wie bei einschlägig tätigen Beratungsfirmen die dramatische Diagnose für die Banken. Und auch Versicherungsvorständen wird ins Stammbuch geschrieben, sie hätten ihre Unternehmen und Geschäftsmodelle grundlegend „neu zu denken“ bzw. diese „neu zu erfinden“ (vgl. exemplarisch: McKinsey
2017). Zweifelsohne setzen die von Big-Data-Konzernen und Beratungsfirmen propagierten Zukunftsszenarien die etablierten Unternehmen der Finanzdienstleistungsbranche unter Druck – mit den sogenannten Plattformenleitbildern kann jedoch den tatsächlichen Herausforderungen dieser Branche nur begrenzt begegnet werden. Diese Herausforderungen sind in erster Linie nicht einer veralteten IT-Struktur geschuldet, sondern gehen zurück auf die Folgen der Finanz- und Staatsschuldenkrise von 2008, und werden in jüngerer Zeit befeuert durch die Niedrig- bzw. Negativ-Zinspolitik der Europäischen Zentralbank, das Aufkommen neuer Wettbewerber bzw. Konkurrenten und durch ein verändertes Konsumverhalten von (potenziellen) Bank- oder Versicherungskund*innen.
So sind die Erträge aus dem Zinsgeschäft, aus dem etwa zwei Drittel bis drei Viertel der operativen Erträge von Universalbanken stammen, im Gefolge der Zinspolitik der EZB massiv zurückgegangen (Schuster und Hastenteufel
2019, S. 37). Dies belastet auch die Versicherungsunternehmen, insbesondere die Lebensversicherungen (BaFin
2021, S. 32). Zugleich sind die aufsichtsrechtlichen Anforderungen („Basel III“ für die Banken, „Solvency II“ für die Versicherungen) und die damit verbundenen Aufwendungen für IT-Infrastrukturen und Berichtssysteme sowie für Fachpersonal erheblich gestiegen.
15 Und trotz anhaltender Konzentrationsprozesse und des massiven Abbaus von Bankfilialen und Vertriebseinheiten bei den Versicherungen
16, sind die mit den technisch-organisatorischen Strukturen verbundenen Kosten vergleichsweise hoch. Unter dem Strich ist die Aufwands-Ertrags-Relation traditioneller Universalbanken (vor allem der Geschäftsbanken, aber auch der Sparkassen und Genossenschaftsbanken) überdurchschnittlich hoch, sowohl im internationalen Vergleich wie auch im Vergleich zu Online- bzw. Direktbanken (Alt und Puschmann
2016; BaFin
2021, S. 32).
17
Finanzdienstleister sind nach verbreiteter Auffassung zudem mit veränderten Ansprüchen oder Anforderungen ihrer (potenziellen) Kund*innen bzw. mit veränderten „kulturellen Standards“ in Bezug auf die Dienstleistungsbeziehung konfrontiert (vgl. Schuster und Hastenteufel
2019, S. 79 f.): Einfachheit, Geschwindigkeit und eine „Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit“ von digitalen wie analogen Interaktions- und Abwicklungskanälen werden von wachsenden Teilen der jeweiligen Kund*innengruppen im Zusammenhang mit den seit längerem veränderten „Medienpraktiken“ (Gießmann
2015) gewünscht oder gefordert.
18
Vor diesem Hintergrund stoßen wir mit unseren empirischen Erhebungen zur Digitalisierung im Finanzdienstleistungssektor auf erkennbar verunsicherte Unternehmensmanager und keineswegs einheitlich ausgerichtete Strategien. Es gibt einige Stimmen, die fordern, den aktuellen Herausforderungen mit radikalen Veränderungen bisheriger Geschäftsmodelle, so beispielsweise der Aufgabe lokaler Präsenz, zu begegnen; aber diese Positionen dominieren nicht. Mehrheitlich wollen die von uns befragten Managementvertreter an den bisherigen Geschäftsmodellen und Dienstleistungsverbindungen, das heißt auch an lokaler Präsenz vor Ort, im Grundsatz festhalten und darauf aufbauend Erweiterungspotenziale der jeweiligen Dienstleistungsportfolios durch Einbeziehung von bisher branchenfremden Dienstleistungsangeboten ausloten und umsetzen.
Für diese mehrheitlich zu beobachtende pragmatische Ausrichtung sprechen unter anderem Zweifel, ob die propagierten finanztechnischen Innovationen – zu denen insbesondere verschiedene Anwendungsformen maschinellen Lernens an den Kundenschnittstellen (Chat Bots, Robo Advisor bzw. Advanced Robotics) auf der Grundlage der Verfügbarkeit großer Datenmengen (Big Data) zählen (BaFin
2018) – tatsächlich nachweisbare Auswirkungen auf die Erträge von Finanz- und Versicherungsdienstleistern haben werden; hinterfragt wird zudem, ob sich die Produktivität von Dienstleistungsprozessen – wie vielfach behauptet (etwa: McKinsey
2018) – durch einen weiteren IT-Einsatz oder neue technologische Potenziale wirklich erhöht (Acemoglu et al.
2014; Bundesregierung
2018).
Wie unsere Fallstudienergebnisse zeigen, kommt es nicht zu einem Bruch mit etablierten Geschäftsmodellen oder einer breitflächigen Anwendung grundlegender technischer Neuerungen. Das bedeutet keineswegs, dass sich nichts oder wenig verändert, aber die Veränderungen sind eher evolutionärer Art und weisen zudem Pfadabhängigkeiten auf. Erkennbar ist eine Erweiterung bestehender Geschäftsmodelle und (Allfinanz‑)Dienstleistungsangebote um plattformbasierte Produkte. Dies geht einher mit dem Aufbau von Kooperationen mit Fin- bzw. Insurtech-Firmen und Plattformanbietern, aber auch mit branchenfremden Dienstleistungsunternehmen. Alle untersuchten Versicherungen und Banken betreiben und/oder beteiligen sich beispielsweise an sogenannten Innovations- oder „Digitalisierungslaboratorien“, in denen man sich mit Fin- oder Insurtechs sowie anderen Finanzdienstleistungsunternehmen über neue Technologien und über Anwendungserfahrungen austauscht. Aus mehreren Gesprächen mit an solchen „Laboren“ Beteiligten wurde deutlich, dass sich die betrieblichen Akteure davon Impulse für die eigene „Innovationskultur“ versprechen, ein „besseres Gespür“ für neue Entwicklungen bekommen wollen und auch bereit sind, dafür „ein bisschen Geld in die Hand [zu] nehmen“ (Digitalisierungsexperte Bank). Nahezu alle Unternehmen versuchen, die Markt- bzw. Kundenbeziehungen und Kundenschnittstellen neu zu konzipieren und zu organisieren. Dies beinhaltet auch, dass etwa die Kundenschnittstellen verstärkt zum Gegenstand von Rationalisierungs- und Automatisierungsprozessen werden, etwa durch die intensivierte Verlagerung von Dienstleistungsaufgaben, die zuvor Teil des Dienstleistungsangebots waren, an die Kunden (via Kundenportale oder Apps). Schließlich wird das Outsourcing bestimmter Funktionen wie etwa die Zahlungsabwicklung oder IT-Services in den von uns untersuchten Fällen verstärkt.
Bedeutsam ist der Versuch auch dieser mittelgroßen Unternehmen, sogenannte „Ökosysteme“
19 aufzubauen bzw. sich an solchen zu beteiligen; dabei handelt es sich um Unternehmens- und teilweise Branchengrenzen überschreitende Netzwerke, in denen Kunden erweiterte Dienstleistungsangebote gemacht werden. Jedoch zielen die Ökosysteme nicht allein auf informationstechnische und datengetriebene Marktbearbeitungs- und Austauschprozesse, wie sie etwa Staab (
2019) im Auge hat, sondern versuchen teilweise, analoge mit digitalen Dienstleistungsangeboten zu verbinden. Eine von uns untersuchte Bank betreibt eine eigene Plattform zur Vermittlung sehr heterogener Dienstleistungen und Produkte von kooperierenden Unternehmen an bestehende Bankkunden. In einem anderen Fall geht es um die Vermittlung ärztlicher Beratungsangebote für Kund*innen eines Krankenversicherers. Ein weiteres, wenn auch nicht eingehender untersuchtes Beispiel ist der Fall eines Versicherungsunternehmens, das nicht mehr nur Kooperationsvereinbarungen mit „Partner-KFZ-Reparaturwerkstätten“ abschließt, sondern selbst als Betreiber von Werkstätten in Erscheinung tritt. Im einen wie im anderen Fall sollen nicht nur Schadenaufwendungen sinken, sondern im Zusammenhang mit weiteren daran gekoppelten Dienstleistungsangeboten auch die Kundenbindung erhöht und zusätzliche Informationen über die Kund*innen gewonnen oder neue Ertragsquellen erschlossen werden. Mit solchen hybriden Netzwerken werden die bestehenden Branchengrenzen systematisch überschritten. Offen scheint, ob solcherlei Ökosysteme von den dominierenden Akteuren strukturell auf Schließung ausgerichtet sind oder eher offengehalten werden. Letzteres scheint in unseren Fallstudien der Fall, etwa wenn es um die Frage der Art der Integration von finanztechnologischen Innovationen bzw. Know-how geht: Die untersuchten Versicherungen und Banken ziehen Kooperationen mit Fin- oder Insurtechs (z. B. in Bezug auf Plattform‑, Roboterisierungs- oder Automatisierungslösungen) einer Übernahme solcher Anbieter vor. Dies hat teilweise mit der Größe und Finanzkraft der Unternehmen zu tun, aber auch damit, dass man sich über Kooperationen eine technologische und strategische Offenheit bewahren möchte. Technologieanbieter wiederum reagieren darauf z. B. mit dem Angebot von „White Label“-Plattformlösungen, die von verschiedenen Banken bzw. Versicherungen auf Provisionsbasis und dann unter ihrer eigenen „Marke“ genutzt werden können.
Mit Blick auf die Informationstechnologie lässt sich für unsere Fallunternehmen festhalten, dass alles in allem eine (nur) schrittweise Modernisierung und Erweiterung bestehender Systeme stattfindet. Dabei geht es vorrangig um die Herstellung von Anschlussfähigkeit der existierenden Groß-IT-Systeme
20 an neue Technologie- oder Produktanbieter, wobei die Sicherung und Kontrolle der (eigenen) Kundenschnittstellen und Daten für die Unternehmen im Vordergrund steht. In diesem Zusammenhang finden technische Neuerungen in den untersuchten Firmen insbesondere im Bereich des Auf- und Ausbaus von Big-Data-Infrastrukturen
21 und der „Customer-Relationship-Management“-Systeme (CRM) statt, um strukturierte und möglichst auch unstrukturierte Kundendaten sowie Hinweise auf das Konsumverhalten zu sammeln und monetarisieren zu können. Schließlich setzen sich – gewissermaßen nach innen – langjährige Trends der Standardisierung von Produkten und Prozessen und die Automatisierung im Back Office verstärkt fort.
Unsere Befunde zu den von uns beobachteten Veränderungsprozessen in deutschen Banken und Versicherungen lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass das betriebliche Managementhandeln in den Unternehmen im Kern durch eine schrittweise Modernisierung und Erweiterung der vorhandenen Geschäftsmodelle und der eingesetzten Technologien sowie durch den Versuch einer unternehmens- und branchenübergreifenden Netzwerkbildung gekennzeichnet ist. Die von uns untersuchten Finanzdienstleistungsunternehmen halten dabei an den bestehenden Formen der Marktbearbeitung fest – d.h. ganz überwiegend: mit personenbezogener, „ganzheitlicher“ Beratung ein möglichst breites Spektrum von Finanz‑, Vorsorge- und Versicherungsdienstleistungen an den Mann oder an die Frau in privaten Haushalten beziehungsweise in Unternehmen zu bringen. Damit setzen sich die schon in den 1970er-Jahren begonnenen Prozesse systemischer Rationalisierung nun auf einem höheren Automatisierungs- und Technisierungsniveau und mit größerer Reichweite fort. Ob und inwieweit es den Banken und Versicherungen gelingt, sich innerhalb der entstehenden
hybriden Ökosysteme als „fokale“, kontrollierende und steuernde Akteure zu etablieren und zu halten, dürfte für die Gestalt der zukünftigen Markt- und Machtverhältnisse im Finanzdienstleistungssektor wesentlich sein
22.
Die Corona-Pandemie bzw. die zu deren Eindämmung getroffenen Maßnahmen und die damit einhergehende Wirtschaftskrise werden vielfach als Beschleuniger und Verstärker des seit Jahren zu beobachtenden Strukturwandels (Marktkonsolidierung und Konzentration, Rückbau von Vertriebs- bzw. Filialstrukturen) sowie einer Digitalisierung von Geschäftsprozessen im Finanzdienstleistungssektor interpretiert (Schwartz und Gerstenberger
2021; Freiberger
2020). Eine für die etablierten Banken und Versicherungen und deren Wettbewerbsstrategien, Markt- und Dienstleistungsbeziehungen sicherlich zentrale Frage ist, inwieweit es zu weiteren Verschiebungen hin zu rein technisch vermittelten, auf persönliche Interaktion und Beratung verzichtende Dienstleistungsbeziehungen kommt. Die seit 2020 nochmals verstärkte Nutzung von Online- und auch Mobile-Banking spricht dafür, dass sich die bereits vor Corona beobachteten Veränderungen in den Kommunikations- und Konsumpraktiken (Gießmann
2015) fortsetzen könnten. Zugleich verdeutlichen Konsument*innenbefragungen aber auch die anhaltend hohe Bedeutung persönlicher Kontakte und physischer Nähe (vgl. Handelsblatt
2020). Die längerfristigen Wirkungen der Corona-Pandemie auf Geschäftsmodelle und Rationalisierungsstrategien bei Banken und Versicherungen sind daher ungewiss.