Seit den 1990er-Jahren enthalten viele Branchentarifverträge Öffnungsklauseln (Bispinck
2004). Sie ermöglichen Unternehmen, durch den Abschluss einer Betriebsvereinbarung von den in einer Branche gültigen Tarifstandards abzuweichen (Kohaut und Schnabel
2007, S. 7). Öffnungsklauseln wurden vor allem im Hinblick auf ihre Verbreitung, Einflussfaktoren, betriebswirtschaftliche Wirkung (Lohnstruktur und Beschäftigungsentwicklung in den Betrieben) und ihren Einfluss auf die Normierungskraft des Branchentarifvertrags untersucht (Bispinck und Schulten
2003; Bispinck
2005; Massa-Wirth und Seifert
2005; Bahnmüller
2009; Kohaut
2007; Kohaut und Schnabel
2007; Ellguth und Kohaut
2014; Amlinger und Bispinck
2016). Zu den wichtigsten Erhebungsinstrumenten zählen das IAB-Betriebspanel sowie die WSI-Betriebsrätebefragung, die beide eine bundesweite Betrachtung zulassen. Neben diesem Strang der empirischen Literatur, die eine gesamtwirtschaftliche Perspektive vermittelt, gibt es noch einen zweiten Strang, der sich auf Tarifabweichungen in der Metall- und Elektro-Industrie fokussiert (Haipeter,
2009a, b,
2020; Haipeter und Lehndorff
2009; Schneider
2021). Vom Branchentarifvertrag abweichende Regelungen in Haustarifverträgen werden hingegen kaum untersucht. Hier liegen lediglich zwei regionale Analysen vor. Hierüber wird im Folgenden ein kurzer Überblick gegeben.
2.1 Branchenübergreifende Befunde
Kohaut (
2007) sowie Kohaut und Schnabel (
2007) nutzen die erstmals 2005 erhobenen Daten aus dem IAB-Betriebspanel, um die Reichweite und Anwendungsbereiche von Öffnungsklauseln darzustellen.
3 Darüber hinaus identifizieren Kohaut und Schnabel (
2007, S. 36 ff.) Erklärungsfaktoren der Inanspruchnahme von Öffnungsklauseln. In einer weiteren Untersuchung nutzen Ellguth und Kohaut (
2014) ergänzende Befragungswellen des IAB-Betriebspanels, die 2007 und 2011 durchgeführt wurden. Über alle Branchen hinweg wurde im Jahr 2011 in jedem fünften Betrieb eine Öffnungsklausel genutzt. Hiervon waren 35 % der Beschäftigten betroffen (Ellguth und Kohaut
2014, S. 442). Dabei nutzten 13 % der Betriebe Öffnungsklauseln, um in puncto Arbeitszeit von den tarifvertraglichen Standards abzuweichen und 10 %, um die tarifvertraglichen Entgelte abzuändern.
4 Nur selten wurden Entgelt- und Arbeitszeitöffnungsklauseln gleichzeitig genutzt.
Mit Hilfe einer Probit-Schätzung, durch die der Einfluss mehrerer erklärender Variablen auf eine abhängige binäre Variable abgeschätzt wird, untersuchten Ellguth und Kohaut (
2014), welche betrieblichen Merkmale die Entscheidung zur Nutzung einer Öffnungsklausel beeinflussen. Anknüpfend an Kohaut und Schnabel (
2007) unterschieden sie dabei zwischen der Anwendung von Entgelt- und Arbeitszeitöffnungsklauseln. Die Nutzung von Entgeltöffnungsklauseln hing häufig mit einer schlechten Ertragslage zusammen, während die Nutzung von Arbeitszeitöffnungsklauseln eher Ergebnis eines hohen Wettbewerbsdrucks ist (Ellguth und Kohaut
2014, S. 447).
5 Angaben zur Höhe der Abweichung wurden nicht erhoben.
In der WSI-Befragung von Betriebs- und Personalräten wurde erstmals 1997 nach der Tarifbindung und der Nutzung tariflicher Öffnungsklauseln gefragt (Bispinck
2005, S. 301). Dabei werden die Regelungsinhalte von Abweichungen detaillierter als im IAB-Betriebspanel abgefragt, sodass sich ein breiteres Bild ergibt (Bispinck und Schulten
2003, S. 164; Bispinck
2005, S. 306). Amlinger und Bispinck (
2016) gehen auf Basis der 2015er-Welle der WSI-Betriebsrätebefragung der Frage nach, inwiefern „die Dezentralisierung des Tarifsystems […] die Funktionsweise und Durchsetzungskraft des Branchentarifvertrags zu unterminieren“ drohe (Amlinger und Bispinck
2016, S. 212). Öffnungsklauseln beurteilten sie in diesem Kontext als problematisch, da diese „nicht lediglich eine regelkonforme Differenzierung, sondern eine betriebliche Unterschreitung der tariflichen Standards erlauben“ (Amlinger und Bispinck
2016, S. 212). In der telefonischen Befragung von 4186 Betriebsräten aus privat geführten Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten gaben 21 % der befragten Betriebsräte an, dass in ihrem Betrieb eine Öffnungs- oder Differenzierungsklausel genutzt wurde. Hiervon betroffen waren 27 % der Beschäftigten. Öffnungsklauseln wurden dabei häufiger in größeren Betrieben (mit 250 und mehr Beschäftigten) eingesetzt. Im Verarbeitenden Gewerbe, zu dem auch die Metall- und Elektro-Industrie gehört, war eine durchschnittliche Nutzung zu beobachten. Hochgerechnet auf alle tarifgebundenen Betriebe nutzten 14 % der Betriebe Öffnungsklauseln, um in puncto Arbeitszeit von tariflichen Standards abzuweichen. Weitere 10 % nutzten Öffnungsklauseln um entweder die Gehälter, die Zuschläge oder die Jahressonderzahlungen anzupassen. Wie stark die Betriebe von den Bedingungen des für sie gültigen Branchentarifvertrags abwichen und welche Kostenersparnisse sich daraus für sie ergaben, wurde nicht untersucht.
In der Befragung gaben 13 % der befragten Betriebsräte an, dass auch ohne Öffnungsklausel in ihrem Betrieb informell von den Tarifstandards abgewichen wurde. In diesem Fall wurde vom Branchentarifvertrag abgewichen, ohne dass dies durch eine Öffnungsklausel erlaubt war (Tarifbruch). Dieser Befund liegt etwas unter den Werten früherer Untersuchungen, die zwischen 1999 und 2003 auf 14 bis 18 % kamen (Massa-Wirth und Seifert
2005, S. 40). Insgesamt kamen Amlinger und Bispinck (
2016, S. 221) zu dem Schluss, dass die „Normierungskraft“ des Branchentarifvertrags abnehme. Die Aufrechterhaltung der Tarifstandards hing aus ihrer Sicht stark vom gewerkschaftlichen Organisationsgrad und der Durchsetzungskraft der Beschäftigten im Betrieb selbst ab.
Weitere empirische Untersuchungen befassten sich mit dem Einfluss von Öffnungsklauseln auf die Lohnhöhe, auf die Lohnspreizung und das Beschäftigungswachstum in Betrieben (Ellguth et al.
2014; Garloff und Gürtzgen
2012). Diese Studien deuten an, dass Arbeitszeit- und Entgeltöffnungsklauseln unterschiedlich wirken und Öffnungsklauseln vor allem dann eine flexiblere Anpassung an die regionalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ermöglichen, wenn Firmen unterdurchschnittlich leistungsstark sind. Insgesamt zeigt sich laut Garloff und Gürtzgen (
2012, S. 745) jedoch, dass die Löhne in Firmen mit Öffnungsklauseln weniger stark auf Änderungen in der Profitabilität reagieren als in Firmen ohne Öffnungsklauseln. Dies führen die Autoren auf einen Selektionseffekt zurück, denn Öffnungsklauseln würden vor allem von Firmen mit eher starrer Lohnstruktur angewandt. Eine Quantifizierung von Einsparungen durch eine bestimmte Tarifvertragsbindung wird nicht näher thematisiert.
In der Metall- und Elektro-Industrie wurde mit dem Pforzheimer-Abkommen im Mai 2004 eine besondere Form der Tariföffnung vereinbart. Danach können Abweichungen vom Branchentarifvertrag unter Einbeziehung der IG Metall durch sogenannte Ergänzungstarifverträge vereinbart werden.
6 Dabei können tarifgebundene Unternehmen nicht nur in einer betrieblichen Notlage von den Tarifstandards abweichen, sondern auch, um ihre eigene Wettbewerbs- oder Innovationsfähigkeit zu verbessern. Zu Umfang und konkreter Nutzung und Ausgestaltung der abgeschlossenen Ergänzungstarifverträge liegen bisher nur wenige Ergebnisse vor. Einen umfassenderen Einblick geben verschiedene Untersuchungen von Haipeter (Haipeter
2009a, b,
2020; Haipeter und Lehndorff
2009) sowie eine aktuelle Studie von Schneider (
2021).
Haipeter geht in einer Analyse von Ergänzungstarifverträgen in der Metall- und Elektro-Industrie der Frage nach, wie sich Tarifabweichungen „auf die Prägekraft der Branchentarifverträge“ (Haipeter
2009b, S. 9) auswirkten und ob sie zur Erosion des deutschen Tarifvertragssystems beitrügen. Grundlage ist eine Auswertung von 850 Vereinbarungen aus der Metall- und Elektro-Industrie, die zwischen 2004 und 2006 mit der IG Metall abgeschlossen wurden und Abweichungen vom Branchentarifvertrag vorsehen (Haipeter
2009b, S. 9). Danach hatte im Jahr 2006 jeder zehnte branchentarifvertragsgebundene Betrieb eine Tarifabweichung mit der IG Metall vereinbart (Haipeter
2009b, S. 152).
In etwas über 67 % der betrachteten Verträge wurde die tarifliche Arbeitszeit und in knapp 69 % die Entgelte angepasst (Haipeter
2009b, S. 170). Veränderungen an den in den 2000er Jahren regional zu unterschiedlichen Zeitpunkten vereinbarten Entgeltrahmentarifabkommen (ERA) gab es in 37 % der Ergänzungstarifverträge. ERA überführte die zuvor getrennt bestehenden Lohntarifverträge für Arbeiter und Gehaltstarifverträge für Angestellte in eine einheitliche Entgeltstruktur. Sofern Betriebe Tarifabweichungen zur Arbeitszeit vereinbart hatten, wählten 60 % eine Verlängerung der tariflichen Wochenarbeitszeit (Haipeter
2009b, S. 175). Sie betrug im gewichteten Durchschnitt 3,4 h (Haipeter
2009b, S. 176). In knapp 24 % der Fälle wurde eine Verlängerung der Arbeitszeit über zusätzliche Arbeitszeitbudgets beschlossen, die innerhalb eines Jahres von den Beschäftigten überwiegend ohne Lohnausgleich zu leisten sind (Haipeter
2009b, S. 173 ff.). In knapp 12 % der Vereinbarungen wurden schließlich die branchentarifvertraglich bestehenden Regelungen zu den Qualifizierungszeiten verändert (Haipeter
2009b , S. 172). Wurden in den betrachteten Vereinbarungen die branchentarifvertraglich vereinbarten Entgelte gekürzt, kam es am häufigsten zu einer Absenkung des Weihnachtsgelds (66,1 %), des Urlaubsgelds (52,4 %) oder der tarifvertraglich vereinbarten Entgelterhöhungen (46,6 %). Die Monats- und Grundentgelte wurden hingegen nur selten gekürzt (13,9 %) (Haipeter
2009b, S. 190).
Haipeter (
2009b, S. 308) stellt fest, dass bei allen bestehenden Kontrollproblemen doch eine Art Professionalisierung bei den Verhandlungen zu Tarifabweichungen auf Gewerkschaftsseite festzustellen sei. Die „Stärkung der innerverbandlichen Kontrolle über den Prozess der Tarifabweichung hat auch zu einer besseren Kontrolle des Verhandlungsprozesses und zu einer Erhöhung der inhaltlichen Kontrolle der Tarifabweichung als Verhandlungsergebnis nach außen gegenüber den Arbeitgebern geführt“ (Haipeter
2009b, S. 308). Hierzu passt, dass im Gegenzug für die zu erbringenden Konzessionen auf der Beschäftigtenseite in 88 % der untersuchten Tarifvereinbarungen auch Gegenleistungen durch die Unternehmen vereinbart wurden (Haipeter
2009b, S. 213). Diese Ergebnisse ähneln den Befunden von Amlinger und Bispinck (
2016), die ebenfalls zeigen konnten, dass kontrollierte Abweichungen von Branchentarifverträgen mit vermehrten Zugeständnissen auf Arbeitgeberseite einhergehen.
Schneider (
2021, S. 77 f.) zeigt auf Basis einer Auswertung von knapp 400 Ergänzungstarifverträgen in der Metall- und Elektro-Industrie im Frühjahr 2019, dass Arbeitszeit- und Entgeltregelungen die entscheidenden Stellschrauben darstellen. So wurden in 44 % der untersuchten Ergänzungstarifverträge Arbeitszeitverlängerungen vereinbart, 47 % sahen Kürzungen beim monatlichen Entgelt oder bei Einmalzahlungen vor. Abweichungen in weiteren Bereichen wie bei den Altersteilzeit-Regelungen oder der Befristung von Arbeitsverhältnissen sind seltener. Als Gegenleistung wurden häufig Arbeitgeberzusagen vereinbart.
Die Regelungsinhalte von Haustarifverträgen wurden bisher nicht untersucht, obwohl im Jahr 2020 in West- und in Ostdeutschland 2 respektive 3 % der Betriebe einen Haustarifvertrag anwandten, in denen 8 beziehungsweise 11 % der Beschäftigten arbeiteten (Ellguth und Kohaut
2021, S. 308). Öffentlich zugängliche Untersuchungen zu den Regelungsinhalten von Haustarifverträgen liegen lediglich auf regionaler Ebene für die thüringische und sächsische Metall- und Elektro-Industrie vor.
7 Finley und Weitz (
2004) werteten 39 Tarifverträge aus der Tarifregion Thüringen aus, die am Jahresende 2003 Gültigkeit besaßen (Finley und Weitz
2004, S. 13). Aufgrund der kleinen Fallzahl, der Beschränkung auf eine Branche in einer einzelnen Region und der veralteten Datenlage wird an dieser Stelle auf die Darstellung einzelner Ergebnisse verzichtet. Das Institut für Mittelstands- und Regionalentwicklung (imreg) hat in seinem Tarifreport 2014 eine Auswertung von 1026 Dokumenten (Tarifverträge, Entgelttabellen, Protokollnotizen, etc.) aus dem sächsischen Tarifregister vorgenommen (imreg
2014, S. 11). Nach einer Bereinigung der zur Verfügung stehenden Dokumente, flossen branchenübergreifend 781 gültige Haustarifverträge in die Auswertung für Sachsen ein.
8 Davon gehörten 94 zur Metall- und Elektro-Industrie oder zu relevanten Dienstleistungen (imreg
2014, S. 21). 59 dieser Verträge wurden mit der IG Metall vor Ort geschlossen und konnten im Detail ausgewertet werden. Dabei wurde in 83 % der betrachteten Unternehmen ein hauseigenes Vergütungssystem festgelegt und in 71% in der Entgelthöhe abgewichen (imreg
2014, S. 28). 47 % der Firmentarifverträge sahen eine Streichung oder Reduzierung des 13. Monatsgehalts oder einen Festbetrag vor. In 34 % der Fälle wurde eine wöchentliche Arbeitszeit von mehr als 38 h pro Woche vereinbart. Die mit der IG Metall geschlossenen Firmentarifverträge liegen im Durchschnitt etwa 10 % unter dem Kostenniveau des Branchentarifvertrags (imreg
2014, S. 30). Der Abschluss von Firmentarifverträgen sei jedoch kein Mechanismus, um den Branchentarifvertrag in der Industrie zu verdrängen. Vielmehr sei die Gewerkschaft in Firmentarifverträgen zu Zugeständnissen bereit, „die die Arbeitgeber in dieser Form seit Jahren auch für den Branchentarifvertrag fordern“ (imreg
2014, S. 10).
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass zwar der Verbreitungsgrad von Öffnungsklauseln ermittelt wurde, aber kaum Kenntnisse darüber vorliegen, wie sich die einzelnen Tarifbindungsformen voneinander im Hinblick auf Flexibilität und Kostenersparnisse unterscheiden. Im Folgenden wird daher der Versuch unternommen, auf Basis eines neu erstellten Datensatzes die Unterschiede zwischen Ergänzungs‑, Haus- und den Branchentarifverträgen in der Metall- und Elektro-Industrie herauszuarbeiten und messbare Kostenvorteile zu beziffern.