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2024 | Buch

Wider die Borniertheit und den Chauvinismus – mit Paul K. Feyerabend durch absurde Zeiten

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Über dieses Buch

Anlässlich seines 100. Geburtstages wird an Paul K. Feyerabend erinnert; es werden seine Ideen diskutiert und es wird gefragt, inwieweit diese geeignet sind, aktuelle Geschehnisse und Konflikte zu beurteilen.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Erinnerungen

Frontmatter
Kapitel 1. Ermunterungen
Zusammenfassung
Begonnen haben meine Verwicklungen mit P.F. im Jahre 1981. Ich arbeitete am Manuskript meiner Dissertation zur spieltheoretischen Modellierung von Verhandlungssituationen. Eine Kritik am sozialpsychologischen Experiment sollte daraus werden. Im Februar 1981 gab mir H.M., einer meiner Doktorväter, selbst ein Kritiker lebensferner experimenteller Situationen, meine marxistischen Ergüsse über vollständige Forschungsprozesse mit der sinngemäßen Bemerkung zurück: „Wenn Du wirklich mal ’was Gutes lesen willst, dann besorg Dir ’mal das Buch »Wider den Methodenzwang« von Feyerabend“. Feierabend – Feyerabend: ein solcher Name hinterlässt seine Gedächtnisspuren. Zumal ein Kollege aus der Philosophie mir in dieser Zeit auf meine Frage, wer denn dieser Feyerabend sei, antwortete: „Der hat es mit dem Pluralismus“. Manche Probleme haben etwas Subversives an sich. Ich glaube, P.F. hatte seinen Spaß an Subversion. Langsam nahm ich Abschied von der „Idee einer universellen und stabilen Methode…“.
Wolfgang Frindte
Kapitel 2. „Ein Wissenschaftler […] ist ein Opportunist“
Zusammenfassung
Meine eigene Krise erreichte erst am 13. Oktober 1989 ihren Höhepunkt. Mein Freund Jacob, dem sie keine Gelenke verrenkt haben und der dennoch gerungen hat, meinte am Morgen dieses Tages, warum ich noch Angst vor den Schon-Toten hätte, die meinten, noch regieren zu können. Bald musste und wollte ich meine Dinge allein tun und so, wie ich es für angemessen hielt: mit dem festen Willen, mich in meiner Wissenschaft nie mehr von politischen Interessen und Strömungen beherrschen zu lassen. Es war Paul K. Feyerabend, der mir half, wieder frei atmen und arbeiten zu können. Vielen Dank, lieber P.F.
Wolfgang Frindte

Zeitverschwendung?

Frontmatter
Kapitel 3. „… der Eindruck der Realität ist verschwunden“
Zusammenfassung
Paul Feyerabend wurde am 13. Januar 1924 in Wien geboren. Mit sechs Jahren wurde er eingeschult. 1934 wechselte Paul Feyerabend auf ein Realgymnasium, in dem „nichtarische“ Schüler – bis zu deren Vertreibung und Vernichtung – in separaten „Judenklassen“ unterrichtet wurden. Im Alter von etwa 16 Jahren, stand er im Ruf, mehr von Physik und Mathematik zu verstehen, als seine Lehrer. Nach Abschluss des Gymnasiums wurde Feyerabend zum Reichsarbeitsdienst und 1943 zur Wehrmacht eingezogen. In Jugoslawien und später an der sogenannten Ostfront erlebte er den Krieg als Gefreiter, Unteroffizier und Offizier. Auf der Flucht vor den sowjetischen Truppen wurde er schwer verwundet. Die Folgen der Verwundungen werden ihn sein Leben lang begleiten. Er wird mit ständigen Kopfschmerzen leben müssen, ohne Stock nicht gehen können und impotent sein. Das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Befreiung vom Nationalsozialismus erlebte er in einem Apoldaer Lazarett, in der Nähe von Weimar. Nach seiner Genesung nahm er an der Hochschule für Musik in Weimar ein Studium auf. Er studierte u. a. Harmonielehre, Klavier, Gesang und Darstellung. Vielleicht waren es die politischen Veränderungen in der Sowjetischen Besatzungszone; möglichweise gab es auch andere Gründe – auf jeden Fall entschied sich Paul Feyerabend, Weimar im November 1946 zu verlassen und nach Wien zurückzukehren.
Wolfgang Frindte
Kapitel 4. Zwischen Basissätzen, Gesang und den Frauen
Zusammenfassung
Im Wintersemester 1946/1947 schrieb sich Paul Feyerabend an der Wiener Universität zunächst in den Fächern Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte ein und wechselte im folgenden Sommersemester zur Physik und Astronomie. Im August 1948 besuchte er das Forum Alpbach und traf dort auch Karl Raimund Popper. In den Jahren danach wird Feyerabend noch öfter nach Alpbach kommen. Er wird den Physiker Erwin Schrödinger und die Physikerin Lise Meitner treffen, die Philosophen Rudolf Carnap und Herbert Feigl, Joseph Agassi, Hans Albert oder Imre Lakatos. Alpbach 1948 hatte Folgen. In den österreichischen Universitätsstädten bildeten sich regionale Arbeitsgemeinschaften von Studierenden, die die Themen von Alpbach aufnehmen und weiter diskutieren wollten. Einer dieser Arbeitskreise war der sogenannte „Kraft-Kreis“, der von Viktor Kraft geleitet wurde und in dem Paul Feyerabend eine aktive Rolle spielte. In dieser Zeit dürfte Feyerabend durch Vermittlung von Walter Hollitscher auch Bertolt Brecht kennengelernt haben. Brecht bot Feyerabend eine Stelle als Assistent in Berlin an. Feyerabend sagte ab, blieb in Wien und promovierte 1951 zur Theorie der Basissätze. Danach bewarb sich Feyerabend beim British Council für ein Stipendium, um in England seine Studien bei Ludwig Wittgenstein fortzusetzen. Da Wittgenstein bereits verstorben war, ging Feyerabend 1952 zu Popper an die London School of Economics and Political Science. Zuvor hatte er sich nicht nur als junger Wissenschaftler einen Namen gemacht. Ab 1947/1948 nahm er wieder Gesangsstunden, besuchte Theateraufführungen und liebte die Frauen.
Wolfgang Frindte
Kapitel 5. London, Wien, wissenschaftliche Perspektiven und eine Liebe in Bristol
Zusammenfassung
Im Herbst 1952 wechselte Feyerabend für ein Forschungsjahr nach London. Er hörte Vorlesungen bei Popper und besuchte dessen Seminare. Feyerabend weigerte sich indes, den Falsifikationismus wie ein Sakrament zu behandeln und rezensierte lieber die „Philosophischen Untersuchungen“ von Wittgenstein und setzte seine Gesangsstunden fort. Nachdem im Sommer 1953 Feyerabends Stipendium für den Aufenthalt in England auslief, kehrte Feyerabend nach Wien zurückkehrte. Von 1953 bis 1954 übernahm er eine Assistentenstelle bei Arthur Pap, der für ein Jahr an die Wiener Universität gekommen war. Als Popper 1954 mitteilte, er habe die finanziellen Mittel bewilligt bekommen, um Feyerabend eine Assistentenstelle in London anbieten zu können, sagte Feyerabend ab. Er tat es auch mit dem Hinweis auf seine momentane Gesangsausbildung und die Möglichkeit, am Wiener Konzerthaus eine Solopartie übernehmen zu können. Das Interesse an der Philosophie indes blieb. Feyerabend bewarb sich auf verschiedene Stellen und erhielt an der Universität von Bristol eine auf drei Jahre befristete Stelle als Dozent für Wissenschaftsphilosophie. In dieser Zeit lernte Feyerabend auch die Philosophen und Physiker Philipp Frank und David Bohm kennen und schätzen. Das Bohmsche Argument, alternative Theorien nie auszuschließen, hinterließen ihre Spuren in den pluralistischen Auffassungen des späten Paul Feyerabend. Und dann lernte er seine zweite Frau, Mary O’Neill, kennen. Indes die Liebe und die Ehe hielten nicht lange an. 1958 nahm Feyerabend eine Einladung, ein Jahr an der University of California in Berkeley zu verbringen, an.
Wolfgang Frindte
Kapitel 6. Jahre in Berkeley und anderswo
Zusammenfassung
Paul Feyerabend kam im September 1958 als Gastdozent nach Berkeley. 1960 erhielt er dort eine Festanstellung. Der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn lehrte seit 1956 ebenfalls in Berkeley. Dort und später noch haben Feyerabend und Kuhn nicht nur heftig miteinander gestritten, sondern sich auch gegenseitig inspiriert. Paul Feyerabend hielt Vorlesungen über Wissenschaftsphilosophie, ging ins Kino, besuchte Theater, nahm seine Gesangsausbildung wieder auf, entdeckte seine Vorlieben für Wrestling-Shows, heiratete ein drittes Mal und ließ sich wieder scheiden. Er erhielt Lehrstuhlangebote aus London, Berlin, Yale und aus Auckland. In Berkeley und Berlin erlebte Feyerabend die politischen Studentenunruhen der 1960er Jahre, die Bürgerrechtsbewegungen und die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg. In London lernte Feyerabend den Wissenschaftstheoretiker Imre Lakatos kennen. Anfang der 1970er Jahre hatte Feyerabend den Plan gefasst, ein Buch mit Lakatos zu veröffentlichen, in dem beide über das Für und Wider rationaler Wissenschaftsmethoden streiten wollten. Doch Lakatos starb zu früh und Feyerabend schrieb 1975 „Against Method“ allein. Nach Gastdozenturen in Brighton und Kassel dachte er an den Ruhestand und an einen Wechsel ins Theater. Doch es kam anders. Erich Jantsch erzählte ihm, dass man in Zürich einen Wissenschaftstheoretiker suche. Feyerabend bewarb sich und bekam 1980 diese Stelle. Nun pendelte er zwischen Zürich und Berkeley, wo er schließlich sein großes Glück fand. In Berkeley lernte 1983 Grazia Borrini kennen und lieben. Sie heirateten im Januar 1989. Ein Jahr später wurde Feyerabend in Berkeley emeritiert und 1991 ließ er sich in Zürich in den Ruhestand schicken. Paul K. Feyerabend starb am 11. Februar 1994 im Alter von 70 Jahren.
Wolfgang Frindte

Schlüsselwerke – Auswahl

Frontmatter
Kapitel 7. Wider den Methodenzwang
Zusammenfassung
1975 veröffentlichte Feyerabend sein Buch „Against Method“. Mit diesem Buch etablierte sich Feyerabend als ungestümer Kritiker des Rationalismus, als exzellenter Kenner der Wissenschaftsgeschichte und als Rebell, dem jegliche Beweihräucherung von Wissenschaft zuwider ist. In dem Buch findet sich jener Slogan, der seitdem unzertrennlich mit Feyerabends Auffassungen verbunden zu sein scheint: „Anything Goes“. Für die Kritikerinnen und Kritiker ist „Anything goes“ das anarchistische Prinzip, das aus Sicht Feyerabends jeglichen wissenschaftlichen Tuns und einer demokratischen Verfasstheit von Gesellschaft zugrunde liegen sollte. Feyerabend selbst vermutete, dass die meisten Kritiker mit ihrer Lektüre des Buches offenbar gleich nach dem ersten Auftreten von „Anything goes“ Schluss gemacht haben. Mit „Against Method“ hat er Aufruhr geschaffen, dort, wo sich Wissenschaftler als Wächter der einzigen Wahrheit, als Experten des Wissens, als Verfechter der reinen Methode wähnten. Manche haben ihm diesen Spiegel, den er ihnen vorgehalten hat, übelgenommen, andere haben in seinen brillanten wissenschaftshistorischen Analysen sich selbst und ihre Nachbarn erkannt und dabei auch gesehen, dass wissenschaftliche Regeln verletzt werden müssen, wenn wir erkennen wollen. Die Idee einer festgelegten Methode und das Beharren auf einer feststehenden Theorie ist nicht nur naiv, sondern Ideologie und Missachtung anderer Wissensquellen ein Zeichen von Borniertheit und Chauvinismus.
Wolfgang Frindte
Kapitel 8. Fundstück: Naturphilosophie
Zusammenfassung
Feyerabend schrieb „Against Method“ innerhalb eines Jahres und meinte rückblickend, damit alles gesagt zu haben, was er jemals sagen wollte. Die scharfen Kritiken, die der Veröffentlichung folgten, setzten ihm allerdings zu. Vielleicht ahnte er auch schon während der Arbeit an „Against Method“, was ihm da blühen könnte. Und möglicherweise ist das auch ein Grund, warum er parallel zu diesem Buch an einem Manuskript arbeitete, mit dem er das Bild eines leichtfertigen Denkers zu korrigieren versuchte. Helmut Heit und Eric Oberheim entdeckten 2004 im Konstanzer Feyerabend-Nachlass ein Buchmanuskript zur Naturphilosophie. Feyerabend hatte Anfang der 1970er Jahre mit der Arbeit an diesem Manuskript begonnen und es später wohl mit der Absicht überarbeitet, es 1976 zu veröffentlichen. Das Manuskript zur Naturphilosophie erschien zu seinen Lebzeiten nicht und wurde erst 2009 von Heit und Oberheim dankenswerter Weise herausgegeben. Im Kern geht es Feyerabend in diesem Buch darum nachzuweisen, wie sich der Aufstieg des Rationalismus von der Frühzeit über die Antike bis in die Neuzeit vollzog. Wissenschaftliche Theorien ebenso wie Mythen seien Ergebnisse menschlicher Tätigkeiten und können Richtschnur für menschliche Tätigkeiten sein. Ihre Funktionalität oder Praktikabilität zeigt sich nicht in ihrem Wahrheitswert, sondern ob und inwiefern sie dazu beitragen können, den sozialen Fortschritt in einer Gemeinschaft zu fördern.
Wolfgang Frindte
Kapitel 9. Erkenntnis für freie Menschen
Zusammenfassung
Drei Jahre nach „Against Method“ legte Paul Feyerabend mit „Science in a Free Society” noch einmal nach. Nun forderte er nicht nur einen wissenschaftlichen Pluralismus, sondern die „Gleichberechtigung aller Traditionen“ in einer Gesellschaft. Um die Quintessenz seiner Argumentationen in „Erkenntnis für freie Menschen“ auf einen Punkt zu bringen, formuliert Feyerabend das Schlagwort „Bürgerinitiativen statt Philosophie“ und einige Seiten später „Bürgerinitiativen statt Erkenntnistheorie“. Die Bürger eines Landstrichs, einer Stadt oder eines Dorfes und nicht ahnungslose Intellektuelle sollen in einer freien Gesellschaft über den Wert und den Gebrauch von Ideen, Theorien und Traditionen entscheiden. Was passiert aber, wenn die Bürgerinnen und Bürger selbst in ihren Traditionen verhaftet sind, dass sie quasi nicht über die Grenzen ihrer selbst geschaffenen und tradierten soziokulturellen Konstruktionen hinauskönnen und in ihren, wie man heute sagen würde, gruppenspezifischen Echokammern die Bezugssysteme für ihre Initiativen zu suchen meinen? Derartige Grenzüberschreitungen schweben ja auch Feyerabend vor. Rationales Forschen sei oft nur vorübergehend von Nutzen und die „Tradition(en) des weißen Mannes“ können keine universelle Richtschnur sein. Zuviel Unheil haben diese Traditionen in die Welt gebracht. Die von den weißen Männern (und Frauen) proklamierten „[…] demokratische(n) Prinzipien so, wie sie heute praktiziert werden, sind unvereinbar mit der ungestörten Existenz, Entwicklung, mit dem ungestörten Wachstum spezieller Kulturen“.
Wolfgang Frindte
Kapitel 10. Die Vernichtung der Vielfalt
Zusammenfassung
„Wie kann es geschehen, dass Sichtweisen, die den Reichtum verringern und die menschliche Existenz ihres Wertes berauben, so mächtig werden?“. Mit dieser Frage hat Paul Feyerabend bis zu seinem Lebensende gerungen. 1999 erschien posthum Feyerabends bis dato unveröffentlichtes Werk „Conquest of Abundance. A Tale of Abstraction versus the Richness of Being“. Die deutsche Übersetzung trägt den Titel „Die Vernichtung der Vielfalt. Ein Bericht“. Grazia Borrini-Feyerabend schreibt im Vorwort zur deutschen Ausgabe, dass Paul Feyerabend im Buch einige besondere Augenblicke in der Entwicklung der westlichen Kultur nacherzähle, Zeitspannen, in denen komplexe Weltanschauungen mit ihren übervollen Deutungen von Realität einigen wenigen, abstrakten Begriffen und stereotypen Darstellungen weichen mussten. Das „Aufkommen des Rationalismus“, seine Vorteile, Verwandlungen und Verzerrungen möchte Feyerabend verstehen. So analysiert Feyerabend die Sprache in den Homerischen Epen, den Rationalismus des Xenophanes, die logische Begründung über die Erhaltung des Seienden bei Parmenides und dessen Einfluss auf die moderne Physik. Seine Fallbeispiele bettet er ein in die jeweiligen kulturellen, politischen und technologischen Kontexte der Zeit und verweist so auf die Mehrdeutigkeit des vermeintlichen Fortschritts in Philosophie, Wissenschaft und Kunst. Menschen bilden die Welt nicht einfach mittels abstrakter Begriffe ab, sie verändern auch die Welt und ihre kategorialen Interpretationen.
Wolfgang Frindte

Was bleibt?

Frontmatter
Kapitel 11. „Das sind in der Tat wichtige Fragen“
Zusammenfassung
Seit Feyerabends Tod im Jahre 1994 erschienen bis heute mehr als 17.000 Publikationen. Dazu gehören zahlreiche Nachauflagen seiner eigenen Schriften sowie die posthum erschienenen Werke („Conquest of Abundance“ aus dem Jahre 1999 und die deutsche Übersetzung mit dem Titel „Vernichtung der Vielfalt“ von 2005 sowie „Naturphilosophie“ von 2009), Diskussionen über seine Kritik am Kritischen Rationalismus, Würdigungen seiner anarchistischen Erkenntnistheorie, Sammelbände mit kritischen Essays, ausgezeichnete Biografien und vieles andere mehr. Feyerabend bezieht, wenn auch en passant, Stellung zu Fragen, die auch die heutigen postkolonialen Studien aufwerfen. Seine Sorge um die epistemische und politische Marginalisierung der Kulturen der indigenen Völker oder um die menschlichen und ökologischen Kosten der Verwestlichung hat ihn bereits in den 1970er Jahren umgetrieben. Feyerabend geht keineswegs davon aus, dass Mythen, Märchen, okkulte Riten oder eben der Schöpfungsglaube den rationalen Vorstellungen von Welt per se überlegen sind. Vielmehr kritisierte er wissenschaftliche Angriffe zum Beispiel gegen die Astrologie, die Kräutermedizin oder die Parapsychologie, wenn die Angreifer*innen ohne Wissen und Kenntnis von Astrologie oder Parapsychologie argumentieren. Feyerabend verteidigt damit eben nicht die vermeintlichen Pseudowissenschaften. Mythen, Märchen oder okkulte Riten können für Feyerabend vielmehr sowohl Anstoß für wissenschaftliche Entdeckungen sein, als auch – sozusagen – die Nagelprobe für das Rationale wissenschaftlichen Forschens bereitstellen.
Wolfgang Frindte
Kapitel 12. Feyerabend und die Psychologie – ein Ausflug mit Spekulationen
Zusammenfassung
Feyerabends Sicht auf die Psychologie differenzierte sich über die Jahrzehnte. Einige seiner Bemerkungen sind erstaunlich zutreffend, andere eher oberflächlich. Während seines Studiums in Wien besuchte er Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre Psychologieveranstaltungen bei Hubert Rohracher. Rohracher vertrat eine naturwissenschaftlich-experimentelle Psychologie. Das EEG galt ihm dabei als wichtiges Instrument für den „objektiven Blick ins Fremdpsychische“. Die „Lehre“ vom unbewussten psychischen Geschehen lehnte er ab. Dass Rohrachers Veranstaltungen auch Feyerabends Skepsis gegenüber der Psychoanalyse ebenso beeinflusst haben könnten wie seine spätere Beschäftigung mit dem Leib-Seele-Problem, ist keine abwegige Vermutung. Die wahrnehmungspsychologischen Forschungen von Edgar Tranekjaer-Rasmussen haben sicher auch Feyerabends spätere Zweifel an der „Theorie der Sinnesdaten“ und an den Grundlagen des logischen Empirismus befördert. In Feyerabends späteren Arbeiten finden sich u. a. Bezüge auf Jean Piaget, Jerome Bruner, Alexander R. Lurija, David Katz, Oswald Külpe, Muzafer Sherif, Leon Festinger, Albert Michotte, Paul Meehl, Ernst Mach und Lew Semjonowitsch Wygotski. Ende der 1980er Jahre ist sich Paul Feyerabend nicht nur des Differenzierungsprozesses in der Psychologie als Wissenschaft bewusst; er nimmt die Auseinandersetzungen und bornierten Versuche in und zwischen den psychologischen Gemeinschaften wahr, Methoden- und Theorienvielfalt entweder zu ignorieren oder zu bekämpfen. Und er sympathisiert mit dem (sozialen) Konstruktivismus.
Wolfgang Frindte
Kapitel 13. Über das Absurde, den Chauvinismus und die Borniertheit
Zusammenfassung
Mit den scheinbar absurden Ideen versuchte Feyerabend, die Absurditäten dieser Welt, die Ignoranz wissenschaftlicher Expert*innen, die Missachtung der Traditionen benachteiligter Kulturen, die kulturellen Ungerechtigkeiten und den Chauvinismus von manchen Ideologien und Weltanschauungen zu entlarven. Man könnte auch sagen, Feyerabend versucht mit Absurdem gegen das Absurde in dieser Welt anzukämpfen. Die Welt ist dann absurd, wenn die Vielfalt von Weltsichten nicht toleriert wird. Gegen diese Absurdität können scheinbar absurde Ideen, Sprachspiele oder Handlungen ins Feld geführt werden. Sie stellen etablierte Interpretations-, Sprach- und Handlungsgewohnheiten in Frage. Sie zeigen auf das, was jenseits der (absurden) Wirklichkeit noch alles möglich sein kann. Scheinbar absurde Ereignisse, Ideen, Aussagen oder Handlungen können kognitive Dissonanzen und soziale Konflikte erzeugen, die durch Perspektivenwechsel sowie durch einen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Pluralismus (der nicht auf Konsens setzt, sondern Dissens ermöglicht) auszuhalten sind. Eine Abschweifung zu Albert Camus, den Philosophen des Absurden, ist deshalb nicht zu vermeiden. Und um dem Titel des vorliegenden Buches gerecht zu werden, wird in diesem Kapitel eine, wenn auch vage, Vorstellung von Borniertheit und Chauvinismus entwickelt.
Wolfgang Frindte

Aus dem Logbuch des Absurden

Frontmatter
Kapitel 14. „Psychologie – dass Gott erbarm‘, hälst du’s noch mit der?“
Zusammenfassunge
Dieses Kapitel ist das erste im Teil 5 des vorliegenden Buches. In diesem Teil wage ich einen Blick auf die Absurditäten in gegenwärtigen Zeiten, auf bornierte Umgangsformen in der Psychologie, auf sprachliche Diskriminierungen, auf den Chauvinismus in Krisen, Katastrophen und im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Zunächst blicke ich auf die gegenwärtige Psychologie, auf ihre Strömungen, Verwerfungen und Borniertheiten. Replikationskrisen, Datenfälschungen und Datenmanipulationen werden ebenfalls betrachtet. Und man meint, einen Hauch von Chauvinismus zu verspüren, wenn man sich die Versuche ansieht, psychologische Erkenntnisse über das Verhalten von Studierenden in westlichen Laboren oder anderen methodischen Inszenierungen auf die „Welt an sich“ oder auf die „Menschheit hier und jetzt“ zu verallgemeinern. „Seit Menschen entdeckt wurden“, so Paul Feyerabend, „die nicht zum westlichen Kultur- und Zivilisationskreis gehörten, hielt man es fast für eine moralische Pflicht, ihnen die Wahrheit zu bringen – und damit meinte man die herrschende Ideologie der Eroberer“. Reflexionen über das Methodologische in der Psychologie schließen das Kapitel ab.
Wolfgang Frindte
Kapitel 15. „Sprache, die für dich dichtet und denkt“ – Weiße Männer und „Cancel Culture“
Zusammenfassung
In diesem Kapitel werden keine Beobachtungssprachen verhandelt. Es geht um widerborstige Sprachtraditionen, um das Gendern, um Sinti und Roma, um „Mohren“ und um Indianer. Ausschlussverfahren, das Canceln, das kein US-amerikanischer „Exportartikel“ ist, und die Diskurskontrollen im Wissenschaftsbetrieb spielen ebenfalls eine Rolle. Schließlich kommen Vertreterinnen und Vertreter der Postcolonial Studies, der Critical Race Studies oder der Whiteness Studies zu Wort, die übrigens Immanuel Kant als einen theoretischen Vordenker der imperialen Eroberung, des Kolonialismus und des Rassismus betrachten. Sicher, die Aufarbeitung der kolonialen Verbrechen des „Westens“ ist dringend notwendig, die intellektuellen Vordenker müssen benannt und der alte und neue Rassismus bekämpft werden. Die Geschichte der Judenfeindlichkeit beginnt indes früher als die der Kolonialverbrechen. Und der Holocaust war mehr als eine schreckliche Ausuferung des Kolonialismus, wie von den Kritikerinnen des Kolonialismus behauptet.
Wolfgang Frindte
Kapitel 16. Corona – Skandal, Krise, Katastrophe
Zusammenfassung
Die einen nennen eine Krise eine Krise, für die anderen ist es eine Katastrophe. Wieder andere sehen in der Krise den Krieg, der zur Katastrophe werden kann. Angesichts dessen gibt es wichtigere Probleme auf der Welt als die Krisen der Psychologie oder den Streit um Cancel Culture. Das ist eine triviale Feststellung. „Die wirklichen Probleme unserer Zeit […] bestehen in Krieg, Gewalt, Hunger, Krankheit und Umweltkatastrophen“, wie Paul Feyerabend schreibt. Weder diejenigen, die sich impfen ließen, noch jene, die es nicht taten, konnten während der Pandemie von Long-Covid-Symptomen wissen. Absurd war es dennoch, dass die Ängstlichen und Impfskeptiker*innen in bornierter Weise in einen Topf geworfen wurden, mit denen, die aus politischen und verschwörungsmythischen Gründen gegen die Impfkampagnen und politischen Anti-Corona-Maßnahmen auf die Straße und in die sozialen Medien gingen und von einer Corona-Diktatur faselten. Studienergebnisse lassen vermuten, dass die einen nicht unbedingt wie die anderen denken, fühlen und handeln. Sieht man einmal von manchen Absurditäten ab und fragt, was bleibt nach der Corona-Pandemie. Nun, zunächst die Erinnerungen an Schulschließungen, Kontaktverbote, gesperrte Parkbänke, geschlossene Restaurants, Existenzsorgen von freischaffenden Künstler*innen und das Sterben in Krankhäusern, Pflegeheimen und in den eigenen vier Wänden usw. Ein höheres Maß an Pluralismus in der Gesundheitspolitik sowie die stärkere Einbeziehung außerwissenschaftlicher Perspektiven während der Pandemie sowohl aus erkenntnistheoretischen als auch aus politischen Gründen wünschenswert gewesen wären. „Die Bürger sind ja nicht unwissend“.
Wolfgang Frindte
Kapitel 17. Klimakatastrophe
Zusammenfassung
Unabhängig von den politischen Orientierungen hält die Mehrheit der Deutschen – trotz des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der nach wie vor hohen Inflationsraten – im Juli 2023 den Klimawandel für eines der drängendsten gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit. Es liegt nicht im Auge der Beobachter*innen, ob die Klimakrise Krisenmerkmale aufweist oder nicht. Maßstab sind ganz allein die Menschen, die unter dem menschengemachten Klimawandel leiden. Vulnerable, durch den Klimawandel gefährdete Gruppen sind Menschen über 65 Jahre, chronisch Kranke und Kinder, so zumindest in Europa. Für Millionen Menschen in anderen Weltregionen ist der menschengemachte Klimawandel eine Katastrophe. Das sehen die AfD-Mitglieder und wohl auch ihre Anhänger nicht, oder sie wollen es nicht sehen. Ob die Bevölkerung den menschengemachten Klimawandel akzeptiert oder nicht, ob die Menschen die klimafreundlichen Maßnahmen unterstützen oder sie ablehnen, ob sie das aus politischen oder finanziellen Gründen tun, auffallend sind die meist eskalierenden Debatten zwischen den Gegnern und den Befürwortern. Die Auseinandersetzungen werden in populärwissenschaftlichen Büchern, in Zeitschriften, im Fernsehen, in Bundestags- und Landtagssitzungen und vornehmlich auf Online-Plattformen geführt. Zu den Gegnern und Leugnern des menschengemachten Klimawandels gehören Pseudowissenschaftler*innen, Journalist*innen, Politiker*innen, Youtube-Sternchen, konservative Thinktanks und rechtspopulistische und rechtsextreme Organisationen und Parteien. Aber: Nicht immer sind die gegenwärtigen staatlichen und politischen Vorgaben besonders motivierend für ein klimafreundliches Handeln einzelner Menschen oder Gruppen. Die Klimawandelkommunikation zwischen den Akteuren lässt bekanntlich zu wünschen übrig.
Wolfgang Frindte
Kapitel 18. Krieg und Frieden
Zusammenfassung
Was haben die Pazifist*innen der „ersten“ Generation erreicht? Wenig. War der „kalte“ Krieg wirklich ein kalter? Vom „Kalten Krieg“ zu sprechen und zu schreiben, erscheint mir doch zu borniert zu sein. Eine solche Benennung folgt einer „westlichen“ Semantik, mit der die Leiden der zahlreichen Opfer der sogenannten Stellvertreterkriege ignoriert und vergessen gemacht werden. Und wie verhält es sich mit der brutalen russischen „Spezialoperation“ in der Ukraine? Es ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Russland ist der Aggressor. Edgar Morin fragt 2023 besorgt: „Wird die Verschärfung des internationalen Kriegs innerhalb der Ukraine über die Grenzen des Landes hinaustreiben, wird der Krieg nach Europa überschwappen und sogar über Europa hinausgehen?“ Ist der Ukrainekrieg die Fortsetzung eines Stellvertreterkrieges mit anderen Mitteln? Und was leistet der Pazifismus heute? Hat der Pazifismus versagt und ist er angesichts des russischen Angriffskrieges obsolet geworden? Vielleicht ist der Pazifismus nicht nur das schlechte Gewissen jener, die aus Chauvinismus und Borniertheit ihre Macht missbrauchen, um die Differenzen zwischen Arm und Reich, zwischen den Geschlechtern, zwischen dem Globalen Süden und dem Westen, zwischen den Kulturen, Nationen und sozialen Gemeinschaften aus Profitgründen zu vergrößern, sondern auch ein „Humanismus in Aktion“, ein Humanismus des „aufrechten Ganges“ in Verhältnissen, in denen Freiheit, Gleichheit und Solidarität noch erkämpft werden müssen. Es ist aber auch nicht immer leicht, eine einheitliche Meinung zu Angriffskrieg und Verteidigungskrieg zu haben; vor allem dann nicht, wenn man das Banner des Pazifismus hochhalten möchte.
Wolfgang Frindte

Schluss?

Frontmatter
Kapitel 19. Widerstreit und Harmonie
Zusammenfassung
Feyerabend offeriert einen pluralistischen, emanzipatorischen und humanistischen Ansatz, um den Widerstreit zwischen Wissenschaftler*innen und Alltagsmenschen, zwischen Theoretiker*innen und Praktiker*innen nicht einfach aufzulösen oder in eine längst überholte Scheinharmonie zu pressen, sondern in Formen zu überführen, in denen der Widerstreit sich bewegen kann. Diese Offerte ist keinesfalls so selbstverständlich, wie sie erscheinen mag. Feyerabend hebt weder die Praxis (als Alltagspraxis oder experimentelle Praxis) gegenüber dem Theoretisieren hervor noch drückt er seine Abneigungen gegenüber wissenschaftlichen Abstraktionen aus. Er kritisiert zwar in gewohnter Manier die „Ideologie“ jener Wissenschaftler*innen, die behaupten, allein die wissenschaftlichen Methoden seien die Königswege der Erkenntnis. Gewiss, er sympathisiert auch mit der Praxis, die ihm demokratischer erscheint, hält die Beziehung zwischen Theorie und Praxis aber für eine komplizierte Angelegenheit und die Wissenschaft für ein Handwerk, das Theorie und Praxis in dialektischer Weise verbindet. Insofern, und das ist der Kern der Feyerabendschen Offerte, kann (muss?) man die Wissenschaft auch kritisieren, ohne selbst ein Wissenschaftler zu werden. Eine Kritik der Wissenschaft ist angebracht im Umgang mit den Erkenntnissen der Psychologie, der Cancel Culture, den Krisen, Katastrophen und Kriegen und vielem anderen. „Eine demokratische Kritik der Wissenschaft ist nicht nur keine Absurdität – sie gehört zur Natur des Wissens“. Es geht schließlich darum, inwieweit durch den Widerstreit zwischen sozialen Gemeinschaften, durch die Verschiedenartigkeit ihrer Erkenntnisbestände, Traditionen, Konventionen und Mythen und durch den Streit über diese Verschiedenartigkeit neue Fragen und Perspektiven für den Umgang mit der Welt aufgeworfen werden können. „Alles geht: das stimmt!“.
Wolfgang Frindte
Kapitel 20. „gute Nacht, bye, bye…“
Zusammenfassung
Ist Sterben nicht etwas Absurdes? „Natürlich ist es das! Wir leben in einer absurden Welt!“.
Wolfgang Frindte
Backmatter
Metadaten
Titel
Wider die Borniertheit und den Chauvinismus – mit Paul K. Feyerabend durch absurde Zeiten
verfasst von
Wolfgang Frindte
Copyright-Jahr
2024
Electronic ISBN
978-3-658-43713-8
Print ISBN
978-3-658-43712-1
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-43713-8